Alina, die ungeduldige Frühlingsfee

„Ohh, ist das aber kalt“, bibberte die kleine Frühlingsfee Alina. Zitternd rieb sie sich die Oberarme. Ihr zartes, rosafarbenes Kleidchen bot ihr keinen Schutz gegen den eisigen Wind, durch den sie flog. Heute Morgen hatte noch so schön die Sonne geschienen. Alina schloss die Augen und spürte noch ihre warmen Strahlen auf den Wangen. Was war nur passiert? Trieb der Winter etwa immer noch sein frostiges Spiel?

Sie sehnte sich so sehr nach dem Frühling mit seiner Blütenpracht, dem Vogelgezwitscher und den sanften Brisen, die luftige Kleider zum Schwingen bringen. Deshalb hatte Alinas Herz wie wild in ihrer Brust geschlagen, als sie an diesem Morgen aus ihrem Schlafzimmerfenster geschaut hatte. Der Schnee war geschmolzen und die Tautropfen auf den nackten Zweigen der Bäume schimmerten im hellen Sonnenlicht.

Nun konnte endlich die Arbeit der Frühlingsfeen beginnen: Sie wecken die Natur aus ihrem langen Schlaf. Ein Wink mit ihren Zauberstäben und Knospen sollen sprießen, zarte Blüten sich öffnen und Hasen über grüne Wiesen hoppeln. Aufgeregt hatte Alina nach ihrer Rosenkappe gegriffen und liebevoll über ihren Zauberstab gestrichen. Sofort hatten die gelben Narzissen und violetten Hyazinthen darauf aufgeleuchtet. Auch Alina schien zu leuchten – ihre Wangen hatten geglänzt und ihr Mund lächelte von einem Ohr bis zum anderen. Was für Abenteuer würde dieser Frühling wohl für sie bereithalten?

Die anderen Feen jedoch hatten noch tief und fest geschlafen. Auch Alinas Rütteln und Schütteln konnte sie nicht aufwecken. Komisch – im letzten Jahr waren sie kaum zu bremsen gewesen. Aufgeregtes Schnattern und Flügelschlagen hatte das Feenhaus hinter dem dicken Brombeerstrauch erfüllt. Nun war außer ihrem ruhigen Atem nichts zu hören. Sollten sie doch weiter schlummern. Alina würde in diesem Jahr keine Sekunde verpassen. Der Frühling hatte begonnen. Und sie würde ihm schon einmal entgegen fliegen!

Das mit dem Fliegen hatte sie sich allerdings schöner vorgestellt – vor allen Dingen wärmer. Verzweifelt suchte die kleine Fee nach einem Unterschlupf. So konnte sie ihren Weg nicht weiter fortsetzen, sonst würden noch ihre Flügel einfrieren. Verzweifelt schaute sie sich um. Nur Bäume mit kahlen Ästen, die sich in den dunkelgrauen Himmel streckten. Kein Versteck weit und breit. Da blies ihr wieder eine kalte Böe ins Gesicht. Sie kniff die Augen für einen Moment ganz fest zu … und prallte gegen einen Baumstamm.

Alina rieb sich den schmerzenden Kopf. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu erinnern, was geschehen war. „Alles ist falsch. Ich muss wieder zurück nach Hause“, murmelte sie. Mit zitternden Beinen stand sie auf. Doch als sie losfliegen wollte, fuhr ihr ein schrecklicher Schmerz durch den rechten Flügel. „Oh nein. Ich habe mich doch verletzt. Ich kann nicht mehr fliegen“, jammerte sie leise. Mit letzter Kraft trippelte die Frühlingsfee auf einem dicken Ast zu einem schützenden Loch im Baustamm.

Alina legte sich vorsichtig auf die Seite, zog die Beine ganz nah an die Brust heran und schlang ihre Arme um die Knie. Das raue Holz pikte sie durch das dünne Kleid. Draußen heulte der Wind. Was sollte sie jetzt nur machen? Auf einmal war sie müde, so unendlich müde. Ihre Augen schlossen sich langsam und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

Ein raues Lachen drang an ihr Ohr. Fröhliche Stimmen riefen sich zu: „Du kriegst mich sowieso nicht, du langsame Schneekugel!“ „Na warte! Gleich habe ich dich!“ Alina hob den Kopf und rieb sich die Augen. Wie lange hatte sie geschlafen? Als sie sich aufrichtete, schoss wieder dieser stechende Schmerz durch ihren Flügel. Richtig. Der Winter hatte sie mit seinen kalten Fingern immer noch im Griff. Sie schüttelte leicht ihren Kopf. „Ich bin eine Fee mit Zauberkräften!“, sagte Alina bestimmt. Flink nahm sie ihren Zauberstab, murmelte in einer uralten Sprache magische Worte und beschrieb mit ihm einen Kreis in der Luft. Nichts passierte. Absolut nichts. Da fiel es ihr mit einem großen Schrecken wieder ein: Solange der Frühling noch nicht angebrochen war, funktionierte ihr Zauber nicht, mit dem sie sich hätte heilen oder um Hilfe rufen können!

„Also auf die altmodische Art“, sagte die kleine Fee zu sich selbst. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf den kalten, nassen Ast und zog den anderen nach. Mit den Armen versuchte sie die Balance zu halten. Es klappte. Sie schaute sich langsam um. Hoffentlich waren die Wesen, deren Stimmen sie gehört hatte, nicht schon verschwunden. Wieder war da dieses Lachen. Woher kam es nur?

Klatsch! Gerade, als sie hinter sich schauen wollte, traf sie ein Schneeball am linken Bein. Sie geriet ins Wanken, verlor das Gleichgewicht und fiel wie ein Stein in die Tiefe. Alina schrie erschrocken auf. In ihrem Kopf drehte es sich so schnell, dass sie gar nicht merkte, wie vier Hände sie rechts und links packten und sie sanft auf den Boden gleiten ließen.

„Was ist mit dir los? Warum kannst du nicht fliegen? Du hast doch Flügel! Und wo hast du Jacke und Mütze gelassen?“ So viele Fragen prasselten auf Alina ein, dass sie gar nicht wusste, welche sie zuerst beantworten sollte. Verdutzt schaute sie in die Gesichter zweier Winterfeen. Sie waren so weiß wie der Schnee und so fein geschnitten wie dünnes Eis. Das Mädchen hatte ihre weißen Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten, die ihr über die hellblaue, mit Eiskristallen bestickte Jacke fielen. Die tiefblauen Augen des Jungen schauten die kleine Frühlingsfee unter einer dicken Pelzmütze fragend an.

„Ich bin Alina, eine Frühlingsfee. Ich habe mich zu früh auf den Weg gemacht und mir dabei den rechten Flügel verletzt. Nun kann ich nicht so einfach zurück in mein Feenhaus fliegen“, erklärte sie ihnen. Das Wintermädchen schnaubte leise. „Dann hast du ja Glück gehabt, dass wir dich gefunden haben. Oh, wie unhöflich! Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Miranda und das ist mein Bruder Miranus.“

Freundlich zwinkerte der Feenjunge Alina zu. „Zeig deinen Flügel mal her. Vielleicht können wir ihn ja heilen.“ Etwas zögerlich drehte sich die kleine Frühlingsfee um. Miranda fuhr leicht mit der kalten Hand über die verletzte Stelle, sodass Alina kurz zusammenzuckte. „Der Flügel ist noch ganz, nur ein bisschen geknickt. Unsere Magie wird für die Heilung ausreichen. Halt jetzt bitte ganz still….“

Die Wintergeschwister stellten sich ganz nah an den rechten Flügel, beugten sich vor und bliesen ihren kühlen Atem auf die verletzte Stelle. Der Flügel wurde sofort von einer dünnen Eisschicht überzogen. Alina spürte die Kälte bis in ihre kleine Zehe, versuchte aber, sich nicht zu bewegen. Zuerst fühlte sich der Flügel taub an, dann kribbelte er, als würden kleine Marienkäfer darauf spazieren gehen und dann… fühlte er sich wieder normal an. Alina bewegte ihn leicht. Kein Schmerz mehr, kein Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war!

Jauchzend fiel sie Miranda und Miranus in die Arme. „Danke! Danke! Danke! Wie soll ich euch das je nur vergelten?“ Die Beiden schmunzelten. „Indem du noch ein bisschen mit uns spielst, bevor die Sonne untergeht“, schlug Miranus vor. Seine Schwester ergänzte: „Selbstverständlich in passender Kleidung.“ Aus ihrem Zauberstab stoben glitzernde Eiskristalle, die um die Frühlingsfee herumwirbelten. Alina blickte an sich herunter. Über ihrem zarten Kleid trug sie jetzt einen pinken Mantel mit kleinen Wollpuscheln, die aussahen wie Schneebälle. Auf ihrem Kopf saß eine von Silberfäden durchzogene Mütze, die in der Mittagssonne nur so funkelte. Ihre Füße steckten in warmen Stiefeln. Jetzt breitete sich auch auf Alinas Gesicht ein breites Lächeln aus. „Wetten eine Frühlingsfee ist schneller als eine langsame Schneekugelfee?“, sagte sie und tippte Miranus auf die Schulter. „Du bist!“

Sie hatten den ganzen Nachmittag gespielt und waren jetzt ganz aus der Puste. Die Freunde ließen sich auf einem mit Moos bewachsenen Baumstumpf nieder. Alina fühlte sich matt und erschöpft. Eigentlich sollte sie wie die anderen Frühlingsfeen noch im Bett liegen und süße Träume von duftenden Blumen und bunten Schmetterlingen haben. Alina ließ ihren Blick über die weite Wiese schweifen. Da klingelte es leicht in ihren Ohren. Sie stand auf und folgte dem lieblichen Ton. Und dann entdeckte das Frühlingsmädchen den größten Schatz dieser kalten Tage: das erste zarte Grün eines Schneeglöckchens.

Alinas Wangen wurden ganz rot vor Aufregung und Freude, aber in ihre Augen trat eine leichte Traurigkeit. Es würde noch dauern, bis das Schneeglöckchen vollends erblühte. Erst dann begann ihr geliebter Frühling.

Alina spürte einen leichten Windhauch, als Miranda und Miranus neben ihr landeten. Der Feenjunge sah den getrübten Blick seiner Freundin. Da kam ihm eine Idee. Langsam streckte er die Hand nach dem zarten Pflänzchen aus, ließ sie zweimal darum kreisen, sodass sich um das Schneeglöckchen herum ein Würfel aus Eis bildete. Dann gab er diesen Eiswürfel der Frühlingsfee.

„Nimm ihn mit nach Hause. Ruh dich dort noch etwas für deine zukünftigen Abenteuer aus. Wenn das Schneeglöckchen erblüht und die Melodie des Frühlings singt, weißt du, dass es Zeit ist, hinaus in die Welt zu fliegen. Aber beeil dich! Wir wollen uns schließlich noch voneinander verabschieden.“

Eine Träne rann Alinas Wange herunter. Sie drückte Miranda und Miranus ganz fest an sich. Mit fester Stimme sagte sie: „Danke. Ich werde gut auf sie Acht geben. Wir sehen uns bald wieder.“

Zu Hause angekommen, stellte sie das in Eis eingeschlossene Schneeglöckchen auf ihr Nachttischchen und kuschelte sich in die warmen Decken. Ihre Augenlider waren schon ganz schwer vor Müdigkeit. Leise flüsterte sie: „Nun brauche ich keine Angst mehr zu haben, irgendetwas vom Frühling zu verpassen, denn nun wirst du mich jedes Jahr aufs Neue mit deinem wunderbaren Lied wecken.“