Loreli im Düsterwald

Ein Abenteuer muss her!

Die kleine Seefee Loreli wurde durch ein heftiges Schaukeln unsanft aus ihrem Schlaf geweckt. Und hatte direkt schlechte Laune. Noch einmal umdrehen half auch nicht, denn das wilde Geschubse wollte einfach nicht aufhören. Wütend steckte sie ihren grün gelockten Kopf aus der Seerose. „Was soll das? Aufhören!“, schimpfte sie und musste nach Luft schnappen: Ein dicker Tropfen war mitten in ihr Gesicht geplatscht.

„Na toll, jetzt regnet es auch noch. Das passt ja“, grummelte das Seemädchen. Dann würde hier noch weniger los sein als sonst. Und sie langweilte sich doch eh schon so schrecklich. Jeden Tag das Gleiche: Aufstehen, mit Morgentau das Gesicht waschen, den Fröschen bei ihren immer gleichen Liedern zuhören, die Libellenflügel mit ihrem blauen Lappen zum Glänzen bringen. Vielleicht kam mal ein Schmetterling für einen kleinen Rundflug vorbei oder die Fische waren zu einem Wettrennen aufgelegt. Das war es aber auch schon.

Loreli kletterte in ein kleines Blattboot und ruderte zum Ufer. Schnell versteckte sie sich vor dem Regen im dichten Schilf. Vorsichtig bog sie ein paar Halme zur Seite, sodass der Blick auf den nahen Waldrand frei war. Der Düsterwald. Die Wiesenbewohner hatten sie vor den langen Schatten, den knurrenden Monstern und kichernden Geistern gewarnt, die dort drinnen ihr Unwesen treiben sollten.

„Was schaust du schon wieder zu diesem schrecklich grausigen Ort?“, wollte Fred Frosch wissen. „Wäre das nicht ein tolles Abenteuer? Einmal einen Blick auf so ein Stachelstinkebrülltier werfen? Mit einem Geist lässt es sich bestimmt auch gut Verstecken spielen“, schlug die kleine Seefee mit einem neugierigen Blitzen in den Augen vor. Jetzt hielt Fred die kleine Seefee für völlig verrückt: „Sich freiwillig in Gefahr begeben? Niemals!“ Das grummelige Gefühl in Lorelis Bauch blubberte wieder auf. „Dann bleibt eben alle hier in eurem Miniteich! Ich will etwas erleben!“

Trotzig setzte sie einen Fuß auf das matschige Ufer. Schon bald wurden ihre Schritte immer schneller, bis Lorelis Flügel von selbst zu flattern begannen und die Wiese unter ihr immer kleiner wurde. Für das leuchtende Grün oder den verzweifelt winkenden Frosch hatte sie keinen Blick mehr übrig. Ihre Augen waren fest auf die sich dem Wind beugenden, schwarzen Bäume gerichtet. Unten, am Seeufer, ließ Fred die Schultern hängen. „Was soll das nur werden? Sie hat ja nicht einmal Proviant mitgenommen…“

Vor der Waldgrenze zögerte die Fee noch einmal kurz. Doch dann schüttelte sie ihren Kopf. „Jetzt ist es zu spät, um ein Feigling zu sein!“, sagte sie sich selbst. Große, schwarze Tannen standen dicht an dicht und bildeten so scheinbar eine Mauer. Doch diese war nicht unüberwindbar. Sie flog an den pieksigen Ästen vorbei, hinein in den Düsterwald. Hier war von dem Regen und dem heulenden Wind von draußen nichts zu hören – man hätte eine Feder zu Boden fallen hören können. Alles lag in Stille und grauen Schatten.

Loreli bekam nun doch eine leichte Gänsehaut. Sie kam sich wie ein Störenfried vor, dem gleich gezeigt wird, wer hier das Sagen hat. Die Seefee schwebte immer noch auf derselben Stelle. Sollte sie nicht erst einmal abwarten? Vielleicht wollte man sie ja begrüßen? Oder doch beißen?

Aber nichts passierte. Die Seefee atmete tief ein und bewegte langsam ihre Flügel. Außer dieser schrecklichen Finsternis konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. „Ein Wald eben. Mit Bäumen, Büschen und Steinen“, dachte sie sich schon fast etwas enttäuscht. Da lösten sich plötzlich Gestalten aus den grauen Umrissen. Loreli rieb sich die Augen. Hatte sie gerade richtig gesehen oder war das nur eine Täuschung gewesen? Da! Schon wieder! Auf dem Boden wurde etwas Laub aufgewirbelt. Dort drüben auch! Die Wesen bewegten sich so schnell, dass sie nicht sehen konnte, mit wem sie es zu tun hatte.

„Nun zeigt euch doch endlich!“, schimpfte sie schon fast ein bisschen verärgert. „Ich bin nur eine kleine Seefee. Ich komme aus dem kleinen See auf der Wiesenseite und möchte euch kennenlernen!“ Da ging, gleich einem Windrauschen, ein Flüstern durch die Blätter der Bäume. „Was hat sie gesagt?“ „Eine Seefee ist sie.“ „Seht euch die Flügel an!“ „Sie will uns verzaubern!“ „Sie wird uns in die Tiefe ihres Sees ziehen!“„Traut keinem fremden Wesen!“

Loreli rief entrüstet: „Nichts dergleichen habe ich vor. Ich bin ein liebes Feenmädchen. Kommt doch endlich heraus! Dann kann ich es euch beweisen. Ich habe auch süßen Seerosensaft dabei…“

Da kam hinter einem Baum ein blasses Waldlingmädchen hervor. „Darf ich mal daran riechen?“, fragte sie vorsichtig. Loreli lächelte. Als sie das zarte Wesen gesehen hatte, war ihre Angst verflogen. Zuerst waren ihr die kunstvoll geflochtenen Zöpfe, die mit weißen Blüten bedeckt waren, aufgefallen. Sie lagen ordentlich auf einem leicht schimmernden Gewand, dass ihren zierlichen Körper wie ein grauer Schleier umhüllte. An den neugierigen Augen konnte die Seefee erkennen, dass auch das Waldlingmädchen mutig genug war, um Unbekanntes zu entdecken.

Vorsichtig nahm es einen Schluck von dem Seerosensaft. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein glückliches Lächeln aus. „Mmm. Lecker.“ Langsam kamen nun auch die anderen Waldlinge aus ihren Verstecken, blieben aber in einem sicheren Abstand. Loreli setzte sich auf einen Stein. „Nun habe ich aber ein paar Fragen: Wie heißt du und warum versteckt ihr euch in diesem düsteren Wald?“ „Mein Name ist Elfie“, sagte das Mädchen und schaute sie mit großen gold schimmernden Augen an.

„Warum wir hier sind, kann ich dir erklären.“ Hinter einem dicken Baumstamm kam ein Waldling mit langem weißen Bart hervor, der sich auf einen knorrigen Stock stützte.

„Einst waren wir Wesen des Lichts und dieser Wald ein Ort der Freude. Die Blütenblätter der Blumen leuchteten im hellen Sonnenlicht wie Kristalle. Herzlinge ließen sich mit ihren großen Flügeln auf ihnen nieder, um von dem süßen Nektar zu kosten. Das heitere Gezwitscher der Vögel wurde von dem Rauschen der Bäume und Bäche begleitet. Unsere Feste mit Tanz und dem leckersten Apfelkuchen weit und breit, ließ sich keiner entgehen.

Die Moorhexe am Rande unseres Reiches jedoch, konnte das nicht ertragen. Sie verabscheut das Schöne und die Fröhlichkeit. Darum sprach sie einen fürchterlichen Zauberspruch, der das Licht und damit die Farben verschwinden ließ. Dafür zogen in diese Finsternis ihre schrecklichen Kreaturen ein: die Mieflons. Alles an ihnen ist riesengroß und furchtbar hässlich. Aus ihren Mäulern ragen schiefen Zähne, mit den violetten Augen können sie selbst in der tiefsten Finsternis etwas sehen und den Geruch nach Schmodder und vergammelten Pilzen ihres grünen Strubbelpelzes, riecht man schon von weitem.“ Elfie fügte aufgeregt hinzu: „Wir lassen uns aber von hier nicht vertreiben! Dies ist unser Zuhause!“

„Und keiner hat sich bisher getraut, der Moorhexe mal so richtig die Meinung zu sagen? Sie soll ihre schlechte Laune nicht an anderen auslassen und in ihrem Stinkematsch bleiben!“, rief Loreli entrüstet. Der alte Waldling schüttelte nur seinen Kopf. „Erst einmal muss man zu ihrem Hexenhaus tief im Moor gelangen, ohne zu versinken und dann gegen ihre starken Zauberkräfte bestehen.“

„Ich habe keine Angst! Die alte Moorhexe wird sich noch wundern, wenn ich an ihre Türe klopfe! Ich werde sie finden und die Zeit der Dunkelheit beenden!“, ließ Loreli die Waldlinge wissen.

Der Aufbruch

Tief über ihre Zauberkugel gebeugt, verfolgte die Moorhexe Grundel die Ankunft von Loreli im Düsterwald. „Was ist das für ein freches Gör?!“, keifte sie. Vor Ärger wurde ihr Gesicht noch grüner als es sowieso schon war. Auf der Hexenschulter kicherte das Katerchen Peterle. „Jetzt ist es aus mit der Ruhe. Bald bekommst du netten Besuch. Back doch schonmal einen Kuchen mit leckerem Spinnenbein und Schneckenschleim!“ Grundel packte ihn an seinem felligen Nacken und setzte ihn unsanft auf einen wackeligen Hocker. „Das fehlte noch! Warte… Sie will mich kennenlernen? Oh ja, das wird sie…“ Die Moorhexe rieb sich die knochigen Hände.

„Malwine, du faules Mieflon! Komm her! Ich habe einen Auftrag für dich!“ Aus dem Keller kam ein polterndes Geräusch. „Schreit nicht so laut! Das Abendessen ist ja gleich fertig. Ich muss nur noch die Kröten für die Suppe wieder einfangen!“, beschwerte sich die Dienerin der Moorhexe. Bald erschien ihr großer Kopf in der Hexenhütte: Die blauen Haarsträhnen fielen Malwine tief in die von Warzen bedeckte Stirn.

„Da bist du ja endlich! Eine freche Seefee ist in den Düsterwald eingedrungen und droht, mein schreckliches Werk zu zerstören! Zieh hinaus und hole deinen Bruder aus seinem dunklen Loch hervor. Ich will die Waldgeister wecken. Sie sollen heulen, dass es in den Ohren nur so dröhnt. Das Wassermädchen wird uns bestimmt nicht mehr lange stören!“

Malwine blieb der Mund offen stehen, sodass ihre vier gelben Zähne gut zu sehen waren. „Wisst Ihr, wie weit ich laufen und wo ich da alles hinaufklettern muss? Was, wenn ich einen Holzsplitter in meine zarten Füßchen bekomme?! Außerdem habe ich keine Lust. Maufel wird sich nicht sehr freuen, wenn ich ihn wecke!“ Die Moorhexe kniff ihr linkes Auge zu und krächzte:„Nichts da! Du gehorchst, sonst musst du bis zum Ende deines Lebens zu fröhlicher Musik tanzen und eklig süßen Apfelkuchen in dich hineinstopfen!“ Malwine murmelte etwas Unverständliches und ging mit schweren Schritten wieder in den Keller.

Loreli ahnte noch nichts von diesen gemeinen Plänen. Sie zog eine weiche Decke über ihre Schultern und schaute aus einer Asthöhle. Die kleinen Laternen der Waldlinge erhellten etwas die Nacht. Die Seefee fasste an die kleine schwach leuchtende Glasphiole, die an einer Kette um ihren Hals hing. In dieser befanden sich die letzten Sonnenstrahlen, die die Waldlinge einfangen konnten. „Öffne sie am finstersten Ort des Düsterwaldes: unter der Zittrigen Schwarzerle, im Herzen des Reiches der Moorhexe. Einmal befreit, wird das Licht die Dunkelheit vertreiben und Grundel verliert ihre Macht.“ Dies waren die Worte des alten Waldmännleins, der ihr mit dieser Kette das Wertvollste, was sein Volk besaß, anvertraut hatte. Morgen würde sie die abenteuerliche Reise antreten. Sie durfte das Volk der Waldinge und auch sich selbst nicht enttäuschen.

An Schlaf war nicht zu denken. Leise Zweifel schlichen sich in ihr Herz. War es nicht verrückt, einer gemeinen Zauberin alleine gegenüberzutreten? Bevor sie noch weiter grübeln konnte, wurde Loreli von einem Rascheln am Eingang ihres Nachtlagers unterbrochen.

„Schläfst du schon?“, flüsterte Elfie. Die kleine Seefee musste schmunzeln. „Ja, aber mit offenen Augen.“ Zum ersten Mal hörte die Seefee das Waldlingmädchen kichern. Dann wurde Elfie wieder ernst und ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. „Ich werde mit dir gehen. Hier untätig herumzusitzen, halte ich nicht mehr aus. Mein Bündel ist gepackt.“ Loreli nickte langsam. Nun hatte sie eine Gefährtin. „Dann lass uns keine Zeit verschwenden. Wir brechen auf!“

So leise wie möglich, kletterten sie die wackelige Strickleiter hinunter und schlichen sich an den kleinen Lagerfeuern vorbei, in deren Schein sich noch ein paar Waldlinge Geschichten aus glücklicheren Tagen erzählten. Ihre Laternen zündeten die zwei Gefährtinnen erst an, als sie das Dorf schon eine Weile hinter sich gelassen hatten. Das zarte Licht reichte nicht sehr weit. Man konnte gerade so den Weg vor sich sehen. Loreli musste sich stark konzentrieren, damit sich die Angst nicht wie ein schwarzer Nebel über sie senkte und ihren Mut erstickte. Da hörte sie Elfie hinter sich aufschreien.

Schnell war die Seefee neben ihrer Freundin, die sich den schmerzenden Fußknöchel hielt. „Ich muss wohl über eine Wurzel gestolpert sein. Aber ich hatte das Gefühl, dass mich etwas festhält“, schluchzte sie. Elfie sah gerade noch, wie eine hölzerne Schlinge sich schnell wieder in das Wurzelwerk einer riesigen Eiche zurückzog, die kein einziges Blatt an ihren dürren Ästen trug.

Trotzdem vernahmen die zwei Mädchen ein kräftiges Rauschen, das wie ein grässliches Lachen klang. Elfie schaute ängstlich nach oben. „Die Moorhexe hat uns entdeckt und weiß ganz bestimmt von unserem Vorhaben! Nun wird sie alles dafür tun, um uns zu verjagen.“ Es begann wieder in Lorelis Brust zu brodeln. „Mit deinen miesen Zauberkunststückchen kannst du uns nicht aufhalten!“, schrie sie wütend in den Nachthimmel. Als Antwort kam ein kräftiger Wind auf, der einem fast die Luft zum Atmen nahm. Loreli ließ sich davon nicht einschüchtern. Sie half ihrer Freundin auf, zog ihren Umhang enger um sich und schritt mutig voran.

Gefahren

Mit großen Schritten stampfte auch Malwine durch den Düsterwald. „Aua!! Das ist schon der fünfte verflixte Ast, an dem ich mir den Kopf stoße! Was mache ich hier eigentlich? Was gehen mich die Probleme der blöden Moorhexe an?!“, schimpfte sie laut, folgte aber weiter dem faulen Geruch, der immer stärker in ihre empfindliche Nase trieb. Malwines Ziel war die Höhle ihres Bruders Maufel. Sie konnte ihn bestimmt leicht davon überzeugen, das Feenmädchen zu ärgern, denn nichts liebte er mehr, als anderen einen Schrecken einzujagen.

Da war die Höhle auch schon. Gut versteckt, zwischen grauem Fels und dichtem Gebüsch. Der Eingang war mit Geröll und Ranken versperrt. Malwine zögerte nicht lange und riss alles mit ihren Pranken ein. Staub und Gestank wehten ihr entgegen, sodass Malwine erst einmal kräftig Niesen musste, bevor sie ein Wort hervorbringen konnte. „Haatschii! Maufel! Wach auf, du Faulpelz. Die Moorhexe braucht deine Dienste!“ Nichts regte sich. Niemand antwortete.

Schwaches Mondlicht schien von draußen in das Höhleninnere, sodass das Mieflon ein paar Umrisse erkennen konnte. Da war ein Schlaflager aus vertrocknetem Moos und Federn, eine Feuerstelle und abgenagte Knochen. Über allem lag eine feine weiße Schicht. Hier hatte schon lange niemand mehr gehaust. Malwine kratze sich am Kopf. Seit sie Maufel das letzte Mal gesehen hatte, waren auch schon 100 Jahre vergangen. Wahrscheinlich war er weitergezogen. „Jetzt darf ich diesen Nichtsnutz auch noch weiter suchen gehen!“, knurrte sie. Aber vorher brauchte Malwine unbedingt eine kurze Erholungspause. Sie ließ sich auf das alte Lager fallen und schlief sogleich ein.

Die halbe Nacht waren sie schon unterwegs. Loreli taten schon langsam die Flügel weh. Was war das? Täuschten sie die müden Augen oder blinkten da hinten immer wieder bunte Lichter auf? Ja, wirklich, sie schienen näher zu kommen. Jetzt konnte Loreli auch eine sanfte Melodie hören. Vielleicht war das Schöne ja nicht ganz aus dem Düsterwald verschwunden. Sie musste sich das genauer anschauen…

Loreli flog auf die Lichtpunkte zu, als sie schnell an der Schulter zurückgerissen wurde. „Nicht! Das sind die Waldgeister! Sie locken dich erst nahe an sich heran, um dich dann mit schrecklichem Geheul zu erschrecken. Schaust du in ihre großen gelben Augen, hypnotisieren sie dich und du wirst zu einer leeren Hülle!“, warnte Elfie sie eindringlich. Die Seefee blinzelte ein paar Mal und versuchte die Geisterwesen hinter dem Blendwerk zu erkennen. Doch nichts Weißes schien durch die Dunkelheit. Bis sich auf einmal eine spindeldürre lange Gestalt in blauem Gewand aus den dunklen Schatten der Bäume löste und schnell auf die Gefährtinnen zuschwebte. „Lauf!“, schrie Loreli.

Das schreckliche Heulen ließ sie noch schneller werden. Der Waldgeist versuchte, sich vor sie zu drängen. Doch immer, wenn Loreli und Elfie seine eisige Kälte neben sich spürten, kniffen sie schnell ihre Augen zu. Sie hielten sich fest an den Händen, vertrauten auf die Schritte der anderen und liefen tapfer weiter. Bald merkte er, dass er bei diesem Fangspiel nicht gewinnen konnte. Der Waldgeist ließ von ihnen ab und verschwand geräuschlos im Dickicht.

Sie wussten nicht, wo sie hingerannt waren, nur, dass dieses grausige Wesen ihnen nun nicht länger folgte. „Ich kann nicht mehr“, japste die kleine Seefee und schaute sich um. „Da ist eine Öffnung im Felsen. Vielleicht ist das eine Höhle, in der wir geschützt vor bösen Blicken und Kälte etwas schlafen können.“ „Wenn darin nicht die nächste Kreatur der Moorhexe auf uns wartet“, gab Elfie zu bedenken. Da sie aber auch erschöpft war, stimmte sie zu.

Vorsichtig stiegen sie über das Geröll. Das Geräusch der kleinen rollenden Steine hallte in der Höhle fünfmal so laut wieder. Malwine schmatzte im Halbschlaf. „Nein, Maufel. Ich habe jetzt keine Lust, mit dir Murmeln zu spielen.“ Elfie hielt mitten im Schritt inne. „Hast du das gehört? Da hat doch jemand gesprochen“, flüsterte sie. Loreli lauschte in die Stille – nichts. Nun reichte es ihr mit der Vorsicht. Die Seefee machte ein wildes Tänzchen. „Siehst du, nichts passiert. Jetzt sei doch kein Angsthase! Komm, ich bin müde!“

Da schlug Malwine die Augen auf. Sie wischte sich mit der großen Hand über das Gesicht und brauchte ein paar Sekunden, um sich an alles zu erinnern. Träumte sie noch oder was war das für ein Krach gewesen? Nein, kein Traum. Komisch piepsige Stimmen, die nun näher kamen.

Als die zwei Gefährtinnen um die Ecke bogen, wären sie beinahe in das wütende Mieflonweib hineingelaufen. Sie schrien kurz auf und wollten wieder hinaus, aber Malwine hatte sie schon am Kragen gepackt. „Wen haben wir den hier?“, fragte sie mit einem breiten Grinsen, welches sie nicht gerade hübsch aussehen ließ. „Die zwei Störenfriede laufen mir direkt in die Arme. Na da wird sich die Moorhexe aber riesig freuen.“

Loreli und Elfie zappelten, konnten sich aber aus dem festen Griff nicht befreien. Loreli ließ schnell zwischen ihren Händen ein Wasserwirbel entstehen und schleuderte ihn gegen das Mieflon. Malwine störte sich nicht im geringsten daran. Ihr war die leuchtende Kette aufgefallen, die an dem Hals der Seefee baumelte. „Was ist das?“, fragte sie und streckte die Hand danach aus. Loreli wäre beinahe gefallen, so schnell hatte sie sich wegdrehen wollen. „Das geht dich gar….“ Elfie unterbrach ihre Freundin: „Darin sind echte Sonnenstrahlen! Mit ihnen werden wir deine Moorhexe besiegen und euch alle in ihrem stinkenden Moor einsperren!“ Loreli schaute ihre Gefährtin erschrocken an. Elfie hatte ihre Geheimwaffe verraten! Jetzt würde es ein Leichtes für das Mieflonweib sein, ihnen die Kette wegzunehmen und zu zerstören.

Malwine war so verblüfft, dass sie für einige Sekunden einfach nur die beiden Mädchen etwas dümmlich anschaute. Dann schüttelte sie den Kopf. „Grundel ist nicht meine Moorhexe! Dafür ist sie viel zu gemein zu mir!“ Malwine hielt kurz inne. „Sind da wirklich echte Sonnenstrahlen drin? Ich habe noch nie das Sonnenlicht gesehen… Wir Mieflons leben in Höhlen und verlassen sie nur, wenn es dunkel ist. Wie gerne würde ich einen Spaziergang oder vielleicht auch ein Picknick im Sonnenschein machen“, sagte sie verträumt.

Loreli überlegte nicht lange und gab einfach ihrem Bauchgefühl nach. „Willst du uns nicht helfen, Grundel loszuwerden? Damit würde der Düsterwald wieder zum Funkelwald werden und du wärest frei das zu tun, was du möchtest.“ Malwine setzte die Seefee und das Waldlingmädchen vor sich ab. „Wie schmeckt Apfelkuchen?“, fragte sie leise. Elfie schloss die Augen, um sich genau erinnern zu können: „Süß, mit saftigen Äpfeln und knackigen Mandeln. Oma Nele hat immer eine extra Schicht Streusel draufgetan.“ Malwine bekam nicht nur Spuke im Mund, sondern auch Tränen in die Augen. „Immer hat die Hexe Grundel mir alles Schöne mies gemacht. Ihre dreckige Küche, unten im Hexenkeller, ist mein Zuhause. Den ganzen Tag nur herumkommandiert werden und Kröten für ihre blöde Lieblingssuppe nachjagen: Ich habe es satt! Ich werde euch helfen!“, sagte sie entschlossen und kicherte: „Es gibt so einige Geheimnisse, von denen ich weiß. Grundel wird sich noch umschauen.“

Das Moor

„Pah, die waren auch schonmal besser“, Maufel spuckte ein Stück Fliegenpilz in hohem Bogen aus. Das Mieflon hatte wie immer schlechte Laune. Schon seit drei Tagen hatte er nichts Ordentliches in den Magen bekommen, nur ein paar trockene Wurzeln, die nach altem Schuh geschmeckt hatten. Da! Ein leckerer Käfer krabbelte ahnungslos über ein Moospolster. Schon erschien Maufels kahler Kopf hinter ihm, seine gierigen Augen schielend auf den glänzenden Panzer geheftet. Gerade als er den Mund öffnete, begann der Baum neben ihm laut zu knarzen. Davon aufgeschreckt, breitete der Käfer seine Flügel aus und flog davon. „Was zum Donnerbrummel sollte das?“, schimpfte Maufel und schaute mit wildem Blick in alle Richtungen.

In der trockenen Rinde des Baumes kam ein Gesicht zum Vorschein. „Uahh, dass ich das auf meine alten Tage noch machen muss. Davon bekomme ich jedes Mal schlimme Kopfschmerzen“, jammerte die Hexe Grundel. „Moorhexe, was machst du in einem Baum?“, wollte Maufel wissen und untersuchte das holzige Antlitz. „Frag nicht so dumm und nimm deine dreckigen Finger aus meiner Nase!“, schrie die Moorhexe ihn an. „Sperr jetzt lieber deine großen Ohren auf:

Ich habe deine Schwester losgeschickt, um dich zu suchen. Das faule Ding hat sich nicht mehr gemeldet. Du musst jetzt unseren schönen Düsterwald retten.“ Maufel streckte stolz seine Brust raus. „Was soll ich tun?“ „Finde die Seefee Loreli und das ihr wie ein Hündchen folgende Waldlingmädchen. Jage ihnen so einen Schrecken ein, dass sie schreiend in ihr kleines Dorf zurückrennen. Wenn sie dort bibbernd ankommen, wird es niemand mehr wagen, sich gegen mich zu stellen.“ Maufel nickte heftig. „Verstanden. Schrecken einjagen.“ Grundel gab ein knurrendes Geräusch von sich. Die Rinde des Baumstammes nahm wieder ihre alte Struktur an. Maufel kratzte sich am Kopf, dann grinste er breit: „Das wird ein Spaß werden!“

Loreli und Elfie beeilten sich, hinter Malwine herzukommen. Ihnen machte nicht nur das Tempo zu schaffen, das Malwine mit ihren großen Schritten vorgab, sondern auch, dass sie außer tiefem Schwarz fast nichts sehen konnten. „Warum suchst du dir die düstersten Wege zum Moor aus?“, maulte Elfie, die Arme tastend ausgestreckt. Das Mieflon lachte mit einem kleinen Grunzer. „Wisst ihr, was das bestgehütetste Geheimnis der Moorhexe ist? Nein? Ich verrate es euch: Die fiese Nörgeltante hat Angst im Dunkeln!“ Die fragenden Blicke hinter ihrem Rücken sah Malwine nicht, gab den Mädchen aber sogleich eine Antwort: „Warum dies so ist, weiß der Kuckuck. Grundel hat stets ihren Zauberstab bei sich, der auf ihren Befehl hin zu leuchten anfängt“, verriet sie. Da kam der kleinen Seefee eine Idee…

„Schaffst du es, die Moorhexe in deine alte Küche zu locken? Das Feuer im Ofen ist bestimmt längst aus, also müsste es darin schön dunkel sein. Ist sie erst einmal eingesperrt, können wir uns zur Zittrigen Schwarzerle aufmachen und die Sonnenstrahlen freilassen. Malwine stoppte plötzlich, sodass Loreli und Elfie gegen ihren Rücken prallten.

Erst jetzt bemerkten die Mädchen, dass die Bäume des Waldes sie nicht länger umgaben. Vor ihnen erstreckte sich das Moor. „Da hinten steht Grundels Hütte.“ Mit ihren Blicken folgten sie dem ausgestreckten Finger Malwines. In der Ferne wirkte das kleine Häuschen fast schon unscheinbar. „Das Dach ist von einer dicken Moosschicht bedeckt, von der es stetig tropft. Das ‚PLING PLING‘ macht einen mit der Zeit wahnsinnig. Dicke schwarze Holzbalken halten die schiefen Fenster an ihrem Platz. Die runde Tür sieht aus wie ein Fischmaul, das den Eintretenden verschlingen will.“ Bei der Beschreibung bekamen die Gefährtinnen eine leichte Gänsehaut. „Viele Jahre habe ich nichts Anderes gesehen.“ Das Mieflon nickte bestimmt. „Aber nun ist Schluss damit.“

Sie schaute Elfie und Loreli mit ernstem Blick an. „Kommt mir hinterher und passt auf, wo ihr hintretet“, forderte sie die zwei Mädchen auf. Die weite Fläche vor ihnen erschien wie eine stille Wiese. Nur die zitternden Wasserflächen verrieten, dass hier kein gemütlicher Spaziergang möglich war. Vereinzelt ragten kahle Baumstämme in den dunklen Himmel. Auf ihnen tummelten sich Raben, die mit ihrem Krächzen vor dem tückischen Moor warnten. Wer nicht aufpasste, wurde in die schlammige Tiefe gezogen. Malwine aber, kannte das Moor und die sicheren Wege.

Unter den Füßen von Elfie und Malwine gurgelte und patschte es. Oft sanken sie bis zu den Knien in das kühle Nass. Loreli flog dicht neben ihrer Freundin und half so gut es ging, indem sie lästige Halme umbog oder mit kleinen Blitzfunken Schlangen und anderes Getier von ihr fern hielt. Malwine hingegen schien das alles nichts auszumachen. Sie hielt weiter stur auf das nun immer näher kommende Hexenhaus zu.

Mutigen Herzens zum Ziel

„Nun hört doch mal auf zu knurren und warum werft ihr die ganze Zeit mit kleinen Steinen um euch? Das macht mich ganz verrückt!“, schimpfte Malwine. Elfie und Loreli sahen sich erschrocken an. „Das waren wir nicht. Aber wir hören dieses furchtbare Geräusch auch. Gibt es hier etwa noch gruseligere Wesen als die Waldgeister oder sind sie uns wieder auf der Spur?“, fragte Loreli und schaute sich ängstlich um. Malwine schüttelte den Kopf. „Hierher verirren sich keine Waldgeister, aber…“ Bevor sie den Satz beenden konnte, platschte ein großer Brocken vor ihr ins Wasser, sodass sie nun von Kopf bis Fuß nass war. „So jetzt reicht es! Komm raus, wer immer du auch bist!“ Ein schreckliches Heulen war die Antwort.

„Was war das eben für ein „Aber“ in deinem Satz?“, wollte Elfie schnell wissen. Malwine brummte. „Es könnte sein, dass die Hexe den Gorgul, ein riesiges Wesen, geschaffen aus Schlamm und Dreck geschickt hat, nachdem ich ihr nicht mehr gehorche. Über ihn gibt es allerdings nur Geschichten. Noch niemand hat ihn wirklich gesehen.

„Und wenn wir die Ersten sind? Grundel weiß, dass wir ganz in der Nähe sind“, bemerkte Loreli und ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken. Jetzt wurde es also ernst. Da war das Heulen auch schon wieder, aber diesmal näher. Elfie gab einen spitzen Schrei von sich. „Was ist das da für ein Schatten neben dem Baum?“ Malwine und Loreli schauten in die angezeigte Richtung. Tatsächlich: unförmig, groß, lange Arme und Beine und er hatte noch etwas auf dem Kopf. War das etwa ein Geweih? Schnell war er wieder verschwunden. Jetzt zitterten auch Malwine die Knie. So ein Wesen hatte selbst sie noch nicht gesehen.

Wieder das schreckliche Heulen. Diesmal von der anderen Seite. Die Gefährtinnen bildeten Rücken an Rücken stehend einen Kreis. Dann sah Loreli das aus dem Schatten tretende Monster zuerst. Es hatte eine Fratze mit schielenden Augen und spitzen Zähnen. Mit langen Schritten rannte es auf sie zu. „Hilfe!!“, entfuhr es der kleinen Seefee. Sie schnappte sich Elfie und versteckte sich schnell hinter Malwine, die fest wie ein Baumstamm stand.

Kurz vor ihr blieb das Untier stehen. Hob seine Pranken und brüllte fürchterlich. Loreli und Elfie kniffen die Augen zusammen und trauten sich kaum zu atmen. Malwine hingegen, verschränkte nur die Arme…

„Maufel, du mieses Mieflon! Ich kann deine stinkenden Füße bis hierher riechen! Nimm sofort diese alberne Maske ab und verkriech dich wieder in deine Höhle!“ Das Monster hielt überrascht inne, wollte aber nicht aufgeben. Es machte einen Satz zur Seite, um Loreli und Elfie erschrecken zu können. Weiter kam es jedoch nicht, denn es sackte sofort bis zur Hüfte im blubbernden Moorschlamm ein.

Maufel riss sich die Maske vom Gesicht und wedelte panisch mit seinen haarigen Armen. „Rettet mich! Ich versinke!“, schrie er verzweifelt. Malwine schnaubte. „Das kommt davon, wenn man mit der Hexe gemeinsame Sache macht und sich dabei auch noch so dumm anstellt.“ Jetzt wurde Maufel auch wütend. „Und was machst du? Gibst dich mit diesem Gute-Laune-Pack ab! Schämen solltest du dich! So, jetzt hol mich gefälligst hier raus, sonst verpetze ich dich an die Moorhexe und dann grinst du nicht mehr so frech!“

Loreli flatterte neben ihre große Freundin. „Warte, Malwine. Ich werde mich um unser Monster kümmern.“ Die Seefee rieb murmelnd ihre Hände aneinander. Kleine Leuchtpunkte entsprangen den zarten Fingern, drehten sich wild im Kreis und tanzten auf dem Wasser. Sie wirbelten die glatte Oberfläche zu einer Fontäne auf, die Maufel auf den Ast eines knorrigen Baumes beförderte. „Da sollst du bleiben und dir eine Entschuldigung für das Erschrecken überlegen“, sagte die Seefee bestimmt.

Selbst, als sie schon viele Schritte gelaufen waren, hörten sie immer noch das Schimpfen des Mieflons: „Ihr stinkenden Morcheln! Ihr schleimigen Wurmlinge! Ich will hier runter!“ Aber das störte sie nicht, denn jetzt wartete etwas Größeres, Gefährlicheres auf sie. Der letzte Abschnitt ihres Weges lag nun vor ihnen.

Malwine entdeckte bald den Kater Peterle, der um das schiefe Hexenhaus schlich. Sie drehte sich zu Loreli und Elfie um. „Ihr müsst euch beeilen. Folgt diesem Weg. Er wird euch sicher zur Zittrigen Schwarzerle führen.“ Die zwei Mädchen nickten ernst. „Pass auf dich auf. Wir kommen zurück. Zusammen werden wir im warmen Sonnenlicht nach Hause laufen.“ Malwine seufzte und drehte sich zum Hexenhaus um. Dann war ihr aber noch etwas eingefallen: „Halt! Gebt mir etwas, das ihr am Körper getragen habt. Damit will ich Grundel locken. Loreli zog ihre grüne Seerosenkappe vom Kopf und Elfie gab ihr mit Blättern besticktes Taschentuch. Malwine steckte es in ihre Tasche. „Ich werde gut darauf Acht geben.“ Dann trennten sich ihre Wege.

Peterle hatte inzwischen bemerkt, dass sich jemand dem Hexenhaus genähert hatte. Langsam schlich er sich an. Seine Pfoten schienen den braunen Schmodder um das Hexenhaus kaum zu berühren, waren aber bereit zum Absprung. Wer wagte es, die wohlverdiente Ruhe zu stören? Peterle bog um die Ecke und traf auf…

„Malwine. Du traust dich noch hierher?“, fragte er erstaunt. Malwine tat einen tiefen Atemzug. „Natürlich. Ich habe ja auch etwas für unsere liebe Hexe Grundel dabei. Hier in meiner Tasche ist es.“ Peterle erschnupperte mit seiner feinen Katzennase den Geruch der beiden Mädchen. „Iiieeh. Pfui! Du hast die zwei Gören mit hierher gebracht?“ Malwine nickte stolz. „Nun kann Grundel ihnen persönlich sagen, was sie von ihrem Eindringen in den schönen Düsterwald hält. Hol nur deine Herrin. Ich bringe unsere Gefangenen schonmal in die Küche. Vielleicht landen sie ja schon heute Abend im Suppenkessel.“ Bevor der Kater noch etwas erwidern konnte, stapfte Malwine schon die breiten Treppenstufen hinab. Diesmal so schwor sie sich, sollte es das letzte Mal gewesen sein.

Die buschigen Augenbrauen der Moorhexe wanderten vor Erstaunen in die Höhe. „Was sagst du da, mein Katerchen? Sie sind hier?!“ Wie ein junges Mädchen hopste sie aus ihrem knarzenden Schaukelstuhl und klatschte vor Freude in die Hände. Peterle grinste und zeigte dabei seine spitzen Zähne. „Kaum zu glauben, aber die liebe, dir doch treu ergebene Malwine, hat sie geschnappt.“

„Welche Lektion könnte ich den zwei Gören wohl erteilen?“, überlegte Grundel laut. „Vielleicht würden sie sich gut als Zicklein machen. Dann können sie sich blökend beschweren – so viel es ihnen beliebt. Oder in warzige Kröten. Sie wollten doch so unbedingt zu mir ins Moor. Hier ließe sich bestimmt ein gemütlich feuchtes Plätzchen für sie finden“, kicherte die Hexe hämisch und setzte den Fuß auf die Treppe, die zur Schwarzen Küche führte.

Ein bisschen komisch war ihr aber schon zumute. Sie hatte fürchterliche Angst im Dunkeln. Das dämmrige Licht der zittrigen Fackeln an den kahlen Wänden reichte nicht aus, um die ganzen Stufen sehen zu können. Langsam setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf die nassen, glitschigen Steine.

Fast unten angekommen, sprang ihr plötzlich etwas Kaltschleimiges ins Gesicht. Grundel kreischte laut und schlug sich selber auf Wangen und Kopf, um den Angreifer loszuwerden. „Hau ab, du Monster – ich bin die große Hexe Grundel und werde dich in eine Schnecke verwandeln!“, spie sie ihm entgegen. Da packte sie jemand am Arm… „Hiiillfeee!“, schrie die nun nicht mehr so große Moorhexe.

Aber es war nur Malwine, die der Hexe den Rest der Treppe herunterhelfen wollte. „Keine Angst, Grundel. Das war eine verirrte Kröte. Die tut nichts.“ Die Moorhexe strich sich den faltigen Rock glatt. „Das habe ich gewusst! Ich wollte nur testen, ob du mir zu Hilfe eilst. Nun, wo sind die zwei Gören? Wo hast du sie versteckt?“

Malwines Kopf zuckte nach rechts. „Sie sind in meiner Tasche. Die liegt da hinten bei den Kartoffeleimern. Sieh nur nach.“ „Alles muss man selber machen“, zischte die Hexe ärgerlich. Während Grundel auf die dunkelste Ecke in der Küche zulief, wollte sich Malwine aus dem Staub machen und die Tür leise hinter sich zuziehen…

Grundel blieb plötzlich stehen und durchsuchte ihre vielen Taschen, schüttelte die weiten Ärmel, nahm den staubigen Hexenhut vom Kopf und lunste hinein. „Wo ist er denn nur? Ich muss mal eine Kette an diesen verflixten Zauberstab machen. Er wird bestimmt wieder oben, neben der Lesekerze liegen. Spinnenbein und Krötenrülpser!“ Sie drehte sich um… und erwischte Malwine dabei, wie sie von außen nach dem eisernen Knauf der Küchentür griff.

Blitzschnell durchschaute Grundel die List und griff an ihren Gürtel, an dem noch ein Fläschchen von ihrem Versteinerungszaubertrank hing. Sie warf es nach dem armen Mieflon, das sich nicht rechtzeitig retten konnte. Malwine verwandelte sich in eine Säule aus Stein.

Die Zittrige Schwarzerle

Die Hexe tobte. „Dieses hinterhältige Mieflon hat sich mit den zwei Gören zusammengetan! Einsperren wollte sie mich!“ Grundel streckte der Malwinestatue die Zunge raus. „Das hast du verdient! Aber nun kannst du mir nichts mehr von eurem gemeinen Plan verraten. Warum wolltet ihr mich einsperren? Wo sind die Zwei jetzt? Arrghh!“ Sie hastete die Treppe wieder hinauf, stolperte fast über Peterle, der es sich neben dem Ofen bequem gemacht hatte, und riss die Eingangstür des Hexenhauses so weit auf, dass es schon gefährlich knackte. Die Moorhexe ließ ihren Blick über das düstere Moor gleiten. Keine Bewegung war zu sehen, kein Mucks zu hören. „Na wartet. Ihr könnt euch nicht vor mir verstecken!“

Grundel kramte in ihrer Zauberkiste. „Ha, da ist sie ja!“ Die Hexe trat erneut vor ihr Haus. Diesmal trug sie eine Kappe, ganz von Rabenfedern bedeckt, auf dem Kopf. Grundel schloss die Augen und schwang ihre Arme, gleich einem Flügelschlagen. Ihre Nase wurde noch länger, verformte sich zu einem Schnabel. Daraus stieß sie Krächzlaute aus. Sofort drehten die Raben auf den dürren Ästen den Kopf in ihre Richtung und kamen angeflogen. Nun kreisten sie über dem Hexenhaus. Grundel befahl ihnen in der Rabensprache, nach den Mädchen Ausschau zu halten. „Krahhh krahhh, orghgh!“ Sie öffnete die Augen wieder und schaute den davonfliegenden Vögeln nach. „Findet sie für mich, meine Schönen.“

„Da, die Zittrige Schwarzerle ich kann sie schon… uahhh…“, entfuhr es Elfie, bevor sie mit einem Fuß von dem glitschigen Stein abrutschte, auf dem sie gestanden hatte. Gerade noch rechtzeitig, hatte Loreli sie stützen können. „Du musst dich konzentrieren, um den nächsten Stein erreichen zu können! Der Weg ist schmal und gefährlich“, ermahnte sie die kleine Seefee. Elfie nickte schuldbewusst und passte jetzt noch mehr auf. Sie waren bereits über viele solcher Steine gelaufen, um an ihr Ziel zu kommen. So kurz davor durfte nichts schiefgehen.

Elfie blieb stehen. Vor ihr ragte der riesige schwarze Baum auf. Seine feinverzweigten Äste bildeten ein Muster von hundert Spinnenweben am dunkelblauen Himmel. Die Zittrige Schwarzerle stand auf einer kleinen Insel. Um auf diese zu gelangen, brauchte es einen riesigen letzten Schritt, den Elfie mit ihren kurzen Beinen nicht alleine machen konnte. „Ich werde dich hinübertragen“, schlug Loreli bestimmt vor. Das Waldmädchen zögerte, vertraute aber dann ihrer Freundin. Gemeinsam würden sie es schon schaffen.

Loreli verschränkte ihre Hände mit denen von Elfie und hob ab. „Halt dich gut fest!“, rief sie nach unten. Elfie hatte die Augen fest geschlossen. Sie spürte, wie ihre Fußspitzen über Grashalme und kühles Nass schliffen. Bis sie schließlich auf matschiger Erde von Loreli abgesetzt wurde. „Danke“, murmelte sie. Gut, ein geflügeltes Wesen als Gefährtin zu haben“, fügte das Waldmädchen mit einem Augenzwinkern an.

Zum Durchatmen oder gar Ausruhen blieb den beiden keine Zeit. Schon lauerte über ihnen eine neue Gefahr: Die Raben der Moorhexe Grundel hatten sie gefunden. Die Vögel stimmten ein Alarmkrächzen an. Sie drehten sogleich Richtung Hexenhaus ab, um ihrer Herrin Bericht zu erstatten.

Elfies ängstlicher Blick hing an ihren schwarzen Schwingen. „Die Moorhexe wird also gleich hier sein.“ Loreli drehte sich entschlossen zur Zittrigen Schwarzerle um. „Dann dürfen wir keine Zeit verlieren. Sie nahm die Halskette ab, an der die Phiole mit dem eingeschlossenen Sonnenlicht hing. Noch ein letztes Mal betrachtete sie fasziniert den schillernden Glanz. Dann legte sie die Finger um die Öffnung…

Da sprang etwas auf ihren Rücken und bohrte seine scharfen Krallen in ihren Mantel. Loreli sank auf die Knie und ließ vor Schreck die Phiole fallen. Die Moorhexe lachte boshaft hinter ihr. „Gut gemacht, mein Peterle und jetzt bring mir dieses abscheuliche Fläschchen.“ Elfie wollte schneller sein und griff nach der Phiole. „Oh nein, Liebchen!“ Die Moorhexe wedelte etwas murmelnd mit ihrem Zauberstab. Bevor das Waldmädchen wusste wie ihr geschah, wurde sie in eine Maus verwandelt. Grundel schnappte sie sich sogleich und sperrte sie in einen kleinen Käfig.

„Wer wagt es, meine Ruhe zu stören?!“ Die Zittrige Schwarzerle war erwacht. Langsam kroch ein dicker schwarzer Strang den rissigen Stamm hinunter. Loreli, die genau daneben stand, war wie erstarrt. War das ein Ast? Nein, dafür bewegte es sich viel zu geschmeidig. Da schauten sie aus einem schuppigen Gesicht zwei bernsteinfarbene Augen hypnotisch an. „Sssssss. Wen haben wir denn hier? Eine Seefee. Eine wie euch habe ich schon sehr lange nicht mehr gesehen, ssssss. Ich mochte immer euren lieblichen Gesang. Vielleicht kannst du ja mal…“ Da drängte sich Grundel vor Loreli. „Herrin der Zittrigen Schwarzerle, beachtet sie gar nicht. Sie wollte unseren herrlichen Düsterwald zerstören. Aber ich konnte sie gerade noch aufhalten. Lasst mich nur machen, dann wird sie uns nicht mehr stören.“

Die Schlange Adelfia konnte die Unsicherheit in der Stimme der Moorhexe hören. Ohne etwas zu sagen, blickte sie ihr fest in die Augen. Grundel hielt ihr den Käfig mit der Elfiemaus vor das Maul. Das graue Tierchen drängte sich in die hinterste Ecke. „Hhiiier habe ich Euch auch eine leckere Mahlzeit mmmitgebracht“, stotterte die Moorhexe jetzt.

„Wisst Ihr, warum ich den Gesang der Seefeen so mag?“, fuhr Adelfia unbeirrt fort. Für manch einen mag er traurig klingen, aber hört man genauer hin, liegt ein süßer Klang darin, der sich um das Herz legt und es wärmt. Das Süße braucht das Herbe sowie auch das Licht die Dunkelheit, damit beides von Bedeutung ist. Dies gilt natürlich auch umgekehrt.“ Grundel machte ein verständnisloses Gesicht. „Ihr wollt mir also nicht helfen, dieses Pack loszuwerden?!“, stellte sie erbost fest.

Die schwarze Schlange ließ sich auf den Boden nieder und schlängelte auf die zurückweichende Hexe zu. „Weil Ihr dem Wald das Licht genommen habt, verliert meine Zittrige Schwarzerle, hier, am dunkelsten Ort, ihre Blätter. Ohne Licht vergehen auch die anderen Pflanzen des Waldes. Die Bewohner müssen sich in den Schatten verstecken. Es ist schrecklich still geworden. Gebt der Seefee sofort das Fläschchen zurück und lasst sie ihre Aufgabe beenden, sonst wird es Euch schlecht ergehen!

Grundel griff an ihren Gürtel… „Fliegendreck! Der Versteinerungstrank… Diese Malwine!“, murmelte sie ärgerlich. Die Schlange hob ihren Kopf. Nun war sie mit Grundel Angesicht zu Angesicht. „Sssss. Den Versteinerungszauber beherrsche ich auch und brauche dafür keinen Trank.“ Das warme Gelb ihrer Augen wurde zu einem hellen Grün… Die Phiole mit dem Licht fiel aus einer steinernen Hand auf weiches Gras. Die Hexe war besiegt.

Die Rückkehr des Lichts

Augenblicklich verwandelte sich die Maus in Elfie zurück und auch in der Hexenküche schüttelte Malwine den grauen Staub von ihren Schultern.

Loreli jauchzte und fiel dem Waldmädchen um den Hals. Sie freuten sich riesig, einander wiederzuhaben. Adelfia nickte zufrieden. Dann ließ sie ihr Zischen etwas lauter werden: „Habt ihr nicht etwas ganz Wichtiges vergessen?“ Loreli nahm die leuchtende Phiole. „Wie könnten wir das? Aber Elfie und ich machen es diesmal gemeinsam.“

Die schmalen Finger der Mädchen legten sich um die zarte Öffnung. Mit einem kleinen Ruck öffnete sich die Phiole….Sofort schoss ein Lichtstrahl in den Himmel und trieb die dunkle Wolkendecke auseinander. Schon war ein Stück des blauen Himmels zu sehen. Weitere Sonnenstrahlen konnten nun durch und schoben das dunkle Band Stück für Stück beiseite.

Elfie atmete erleichtert aus. Sie war so erfüllt von Glück, dass ihre Stimme nur ein Flüstern war: „Endlich.“ In Loreli stieg eine Melodie auf und wollte hinaus in diese schöne Welt. Die kleine Seefee begann zu singen.

Auch Malwine hörte vor dem Hexenhaus stehend, das schöne Lied. Ganz eingehüllt in Musik und Licht freute sie sich auf ihr neues Leben mit Freunden, Fröhlichkeit und leckerem Apfelkuchen.