Ein Regenwald für Richard Gespenst

Richard Gespenst schaute aus dem Fenster seiner Spukburg. Seit nunmehr 600 Jahren verbreitete es hier Schrecken. Die vielen Gänge, Zimmer, Säle – jeder Gegenstand, jeder Kratzer im Boden war ihm dort bekannt. „Es ist doch immer wieder dasselbe“, seufzte es. Nur die Wellen des Meeres unterhalb der Burg veränderten immer mal wieder ihren Rhythmus. Wo mögen sie einen Seefahrer wohl hinbringen? Zu Ländern voller bunter Blumenwiesen? Einer Pirateninsel? Bergen, mit Spitzen aus Zuckerguss?, fragte es sich.

Zu gerne würde Richard die Welt außerhalb der Schlossmauern sehen. Er seufzte. Weiter als über den Burghof konnte das Gespenst nicht gehen, sonst würde es zu einem Nichts werden. Puff – ein Luftwölkchen. Keine Chance, aus der Traum vom Reisen. Richard schniefte kurz, schnappte sich seine Rasselkette und machte sich wieder an die Arbeit.

Erik setzte sich in dem großen Bett auf und knipste die Nachttischlampe an. Wie cool war das denn bitteschön: Er machte Urlaub auf einer echten Ritterburg! Wie konnte man da an Schlaf denken? Morgen würde er sich mit Mama und Papa den Rittersaal anschauen und sich endlich in das dunkle Verlies trauen.

Im Halbdunkel schauten die Herrschaften auf den Gemälden auf ihn herab. Hatte ihm die Dame im roten Kleid gerade zugezwinkert? „Jetzt sehe ich schon Gespenster“, sagte Erik in die Stille hinein. Das war Richards Stichwort. Es war sein Auge, das sich für den Jungen schelmisch geschlossen hatte. Unsichtbar löste er sich von dem Portrait der lieblichen Clothilde, flog zu der alten Holzkiste und ließ mit einem schrecklichen „Huhuhuhuhuh“ den Deckel etwas klappern. „Das war nur der Wind, nur der Wind“, bibberte der Junge. Richard Gespenst kicherte. Schnell zog Erik die Decke bis zur Nasenspitze.

Dabei fiel mit einem lauten „Plumps“ das Buch über Tiere im Regenwald auf den Boden, in welchem er heute Nachmittag gelesen hatte. Das Gespenst wollte gerade zum finalen Kettenrasseln kommen, als es zwischen den aufgeklappten Buchdeckeln die tollsten Tiere entdeckte. Es war so überrascht, dass es gar nicht merkte, dass es wieder sichtbar war. „Ein Gespenst!“, schrie Erik. „Was willst du, böser Geist? Ich gebe dir mein ganzes Taschengeld, wenn du mich nur in Ruhe lässt!“

Richard erschrak ebenfalls. „Psssscht, nicht so laut. Deine Taschengoldstücke kannst du behalten. Erzähl mir lieber was von diesen merkwürdigen Wesen. Leben die dort, von wo du herkommst? Hast du sie schon einmal gesehen?“

Langsam ließ der Junge die Decke sinken. „Nein. Sie leben weit weg, im Regenwald. Aber ich kann dir vorlesen, was hier über sie geschrieben steht.“ Richard nickte. „Auch gut. Rück mal ein Stück zur Seite“, brummte er und setzte sich zu Erik aufs Bett. Der konnte es kaum fassen. Neben ihm saß ein richtiges Gespenst. Er konnte durch es hindurchschauen, eine leichte Kälte ging von seinem weißen Gewand aus.

Mit seinen großen, gelben Augen blickte Richard den kleinen Gast ungeduldig an: „Nun fang schon an!“ „Ok, ok. Das hier ist der Gelbbrust-Ara. Er ist einer der größten Papageien. Der Gelbbrust-Ara ist in Südamerika zu Hause und lebt in den Kronen der Urwaldbäume…..“ Richard schloss die Augen und träumte sich in das grüne Paradies der Krummschnäbel.

War das ein Krächzen?, fragte er sich. Er machte sie wieder auf. Nein, nur Erik, der sich ein lautes Gähnen nicht verkneifen konnte. Richard erhob sich. „Na dann schlaf halt. Aber morgen komme ich wieder“, versprach er und schwebte durch die Wand zurück in seine Dachbodenkammer.

Am nächsten Tag lief Erik gleich zum Portier des Hotels und fragte ihn nach dem Spukgespenst des Hauses – natürlich ohne zu erwähnen, dass er ihm heute Nacht aus einem Buch vorgelesen hatte. „Hach ja. Richard von Elbertshagen. Er sollte vor 600 Jahren die Burg seines Vaters übernehmen. Doch Richard wollte die Welt sehen. Er durfte aber seine Untertanen nicht im Stich lassen. Starb dann an schrecklichem Fernwehfieber.“ Der Portier schaute so wehmütig wie er konnte. Er schüttelte sich kurz und versicherte: „Keine Angst, junger Mann – außer ein bisschen Rüstungrasseln hier und ein klein wenig „Huhu“ da, ist hier noch nichts passiert.“ Erik nickte und zog die Augenbrauen hoch. Ihn bedrückte nicht die Erscheinung von letzter Nacht, sondern das Schicksal des armen Gespenstes.

Wie konnte man ihm helfen? Grübelnd setzte er sich auf ein Sofa in der Lobby. Es wollte ihm nichts einfallen. Außerdem kitzelte Erik etwas am Ohr. Er wischte es beiseite: ein großes, grünes Blatt einer Pflanze. Das ist es! So ein Hotel hat doch bestimmt viele Pflanzen. Wenn ich die nun alle in einen Raum bekäme. Mal sehen: Leiter, Gießkanne, ein kräftiges Seil, einen CD-Spieler. Ja, so müsste es gehen, ratterte es in seinem Kopf. Der Junge war ganz aufgeregt. „Richard wird ganz blass werden, wenn ich ihm von meinem Plan berichte!“, dachte er mit einer riesigen Vorfreude im Bauch.

Gespenster sind sehr pünktlich. Mit dem zwölften Glockenschlag erschien Richard. „Da bin ich! Naaaa, wer hat mich vermisst?“, fragte er schelmisch. Erik schüttelte den Kopf. „Heute Nacht haben wir keine Zeit für Scherze. Es wird nämlich die Unvergesslichste in deinem ganzen Spukleben werden!

Aufgepasst: Wir holen den Regenwald in die Burg!“ Richard lachte und drehte sich dabei wie ein Wirbelwind im Kreis. „So einen vortrefflichen Witz habe ich schon lange nicht mehr gehört.“

Erik war sauer. „Ich habe doch noch gar nicht erzählt, wie wir das machen!“ Richard versuchte, ernst zu sein und schwebte mit einem unterdrückten Grinsen langsamer. „Leg los. Ich bin ganz Ohr.“ Erik zog die Stirn in Falten erzählte aber trotzdem: „Wir bringen alle Pflanzen des Hotels in den Thronsaal. Regen kann ich nicht herzaubern, aber mir ein paar Gießkannen und dicken Seilen, sollte das schon gehen.“ Richard zuckte mit den Schultern. „Ich habe heute Nacht eh nichts Spannenderes vor. Lass es uns versuchen.“

Erik machte sich also daran, die Gießkannen zu befestigen und das Gespenst begab sich auf die Suche nach den grünen Schätzchen in Fluren, auf Nachttischen, Küchenregalen und Fensterbrettern.

Der Portier Laschik ging in seinem Hotelzimmer, was auf Lebenszeit für ihn reserviert war, auf und ab. „Treibt dieses unverschämte Gespenst in meinem Hotel etwa schon wieder sein Unwesen? Die armen Gäste zu erschrecken! Was, wenn niemand mehr kommen will? Den werde ich mir jetzt mal endgültig vorknöpfen“, murmelte er in seinen Schnauzbart und schnappte sich die Taschenlampe.

Lange musste der Portier nicht suchen. Die Chrysalidocarpus lutescens aus der Kemenate hob einfach so vom Boden ab und flog Richtung Wendeltreppe. Laschik sah hinter ihr ein Stück eines weißen Gewandes und wusste sofort Bescheid. „Dich kriege ich!“ Auf Zehenspitzen huschte er dem Spukgeist hinterher.

Im Thronsaal angekommen, war der Portier sehr überrascht zu sehen, dass der Junge von heute Morgen mit dem Gespenst unter einer Decke steckte. Sie unterhielten sich. Laschik spitzte die Ohren.

„Aus dem Thronsaal einen Dschungel machen? Was ist das für eine wahnwitzige Idee. Na wartet, dabei will ich euch wohl helfen“, dachte er bei sich mit einem diebischen Grinsen. Er machte kehrt und… stieß sich den großen Zeh an einer Vitrine. Laschik konnte sich ein aufheulendes „Au!“ nicht verkneifen. Das Poltern, war auch im Thronsaal zu hören gewesen. „Was war das?“, fragte Erik. „Ich hatte schon auf dem Weg hierher das Gefühl, dass mich jemand verfolgt“, gab Richard zu. „Vielleicht gibt es hier ja Gespenster“, schmunzelte Erik. Beide lachten und kümmerten sich nicht mehr weiter darum.

„So müsste es gehen.“ Erik ließ die gefüllte Gießkanne in die Mitte des Raumes gleiten und zog kräftig am anderen Ende des Seils. Mit einem großen „Platsch“ landete deren Inhalt auf dem Kopf des Gespenstes. „Igitt. Was sollte das, Herr Dschungelgenie?“, fragte es ärgerlich. „Upps. Dann wohl doch der andere Aufsatz und ein etwas sanfterer Zug. Warte…“, sagte Erik.

„Mach die Augen zu!“, forderte der Junge seinen Nachtfreund auf. „Keine Angst, diesmal wird es besser.“ Richard, der nun mitten im Grünen stand, stöhnte, tat es aber. Zuerst ertönten sanfte Vogelstimmen, dann spürte er die Tröpfchen eines leichten Nieselregens. Langsam öffnete das Gespenst die Augen und besah sich ihr grünes Paradies.

In seinem Kopf waren die kalten, dicken Burgmauern verschwunden. In diesem Dschungel fühlte er sich herrlich frei. Eine kleine Gespensterträne rann über seine Wange.

„Du heulst“, holte ihn Erik in das Hier und Jetzt zurück. Richard schniefte. „Das ist dein Gießkannenregen. Gespenster weinen nicht, du Banause.“ Er schwebte zu ihm auf die Leiter und sagte leise: „Trotzdem Danke.“ Erik war stolz. „Keine Ursache.“

Die Dschungelidylle wurde jedoch plötzlich von einem tierischen Brüllen gestört. „Ok, Erik. Das ist alles gut und schön, aber du musst wirklich nicht so übertreiben“, sagte Richard und knuffte ihn in die Seite. „Das war ich nicht. Auf der CD meiner Mutter, sind nur Vogelstimmen für einen entspannten Morgen zu hören. Da wird wohl kein Brüller mit drauf sein“, verteidigte sich der Junge.

Da war es schon wieder. Es schien sich ihnen zu nähern. „Wir sollten ganz schnell von hier verschwinden“, schlug Richard bibbernd vor. „Du bist doch ein Gespenst, selbst ein Wesen der Nacht, unternimm was!“, schrie Erik ihn an. „Tut mir sehr leid, aber mit wilden Tieren kenne ich mich nicht aus. Komm jetzt runter von dieser verflixten Leiter. Wir müssen hinaus in den Burghof.“

Erik rutschte das Herz in die Hose. Schnell rannte er dem wehenden Gewand des Gespenstes hinterher. Richard kannte sich in seiner Burg sehr gut aus. Erste Station: Rüstungssaal. Im Mondlicht glänzten Visiere und Schwerter. Die eisernen Wächter standen still wie eh und je und trotzdem ließ ihr Anblick Erik einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

Das Brüllen hallte in dem großen Saal wieder. Es verfolgte sie, kam aus den Wänden, schien dann wiederum überall zu sein. Im dritten Rundbogengang blieb Erik stehen. „Ich kann nicht mehr.“ „Nur noch bis zur Küche, dort ist eine Tür nach draußen“, trieb Richard ihn an.

Das Untier hielt es nicht länger in seinem Versteck, einem Geheimgang neben dem Portrait des Burgherren Fallersleben, aus. Mit einem fiesen: „Hab ich euch!“, sprang es aus einer verborgenen Tür heraus.

Die zwei Freunde schrien auf, kniffen die Augen fest zusammen und klammerten sich aneinander. „Bitte friss mich nicht. Ich schmecke sowieso nach alten Stinkesocken“, stammelte Richard.

Das Untier begann zu lachen. „Ihr Spitzbuben solltet euch sehen. Schlotterich und Bangehans!“ Erik erkannte die Stimme. Vorsichtig klappte er ein Auge auf. „Herr Laschik! Warum jagen sie uns so einen Riesenschrecken ein?!“, fragte er erbost und löste sich wieder von Richard.

Das Gespenst sah nun auch den grinsenden Übeltäter mir dem CD-Spieler unter dem Arm. Dieser schaute ihn schadenfroh an. „Tja, liebes Gespenst. Ich kenne diese Burg auch sehr gut und alle ihre Geheimgänge. Nicht nur Sie können spuken. Jetzt sehen Sie mal, wie es ist, wenn man sich gruselt. Raus mit der Sprache. Was für einen Spuk haben Sie im Thronsaal mit dem Grünzeug vor?“

Erik stellte sich vor das Gespenst. „Das war alles meine Idee. Richard sollte einmal das Gefühl haben, nicht hier eingesperrt zu sein. Also haben wir einen Dschungel entstehen lassen. Morgen ist alles wieder verschwunden, versprochen.“ „Das will ich aber auch hoffen“, sagte der Portier nun etwas milder, da er doch von der Tat des Jungen gerührt war.

Er wandte sich noch einmal an Richard: „Sie, Richard Gespenst, haben heute Nacht Ihr Abenteuer gehabt. Ich hoffe, dass es in Zukunft auf der Burg etwas ruhiger zugehen wird.“ Richard schmunzelte. „Versprechen kann ich da nichts, mein Herr. Das Herumgeistern ist meine Aufgabe. Ihnen hat das Spuken ja offensichtlich auch einen Mordsspaß gemacht.“ Das musste Herr Laschik wohl oder übel zugeben.

„Na dann arbeite ich schon einmal an einem neuen Werbeplakat für unsere Burg: ‚Gespenstisch aufregendes Familienhotel mit idyllischem Ausblick auf den Hohenstädter Wald’“, schlug er vor und reichte Richard seine Hand. „Also ich werde auf jeden Fall wiederkommen und es all meinen Freunden weiterempfehlen“, versprach Erik.