Sonderbare Waldbewohner
Friedrich riss die Tür von Pauls Zimmer auf. Hinter den großen Brillengläsern überflogen seine sturmgrauen Augen das Durcheinander auf dem Teppichboden. Sein Freund saß auf dem einzigen freien Fleck und schaute ihn überrascht an. Friedrich verschränkte enttäuscht die Arme vor der Brust. „Wie kannst du hier nur so ruhig rumsitzen? Warum stecken deine Füße noch nicht in wasserdichten Wanderschuhen? Los! Wir verpassen sonst noch was!“ Seit Wochen planten und freuten sie sich schon auf ein richtig cooles Abenteuer in dem nur eine halbe Stunde zu Fuß entfernten Müpfelberger Wald. Friedrich wollte das Schimpfen strenger klingen lassen, doch nach dem Sprint zu dem von ihm zwei Straßen entfernten Nachbarhaus, hörte es sich eher wie das Heulen eines erkälteten Seehundes an. Er hätte vielleicht auch nicht immer gleich zwei Treppenstufen zu Pauls Zimmer hinauf nehmen sollen.
Paul verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust, seine Augen waren zu Schlitzen verzogen. „Erstens…Warte, lass mich nachsehen.“ Er hob einen Finger und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. „Bist du volle acht – jetzt sieben Minuten – zu früh. Und zweitens…,“ Paul schwenkte den Arm über die vor ihm ausgebreiteten Gegenstände. „War ich gerade dabei den letzten, mega wichtigen Punkt der Vorbereitung für unser Waldabenteuer abzuschließen. „Und der wäre?“, fragte Friedrich nun etwas genervt. „Na ich kontrolliere, ob wir auch wirklich alles dabei haben!“, erklärte Paul wichtig und fing an, alles in den grünen Wanderrucksack mit den vielen Taschen und praktischen Fächern zu packen, den er letzte Woche zu seinem 8. Geburtstag bekommen hatte.
„Taschenlampe, Lupe, die Feuersteine, eine Karte vom Wald mit der von uns eingezeichneten Route und ein Fernglas. Ich hab alles!“, sagte er stolz und grinste Friedrich breit an. Der konnte nicht anders, als sich davon anstecken zu lassen. „Und in meinem Rucksack steckt das berühmte Käse-Gurke-Brot von meiner Mama als Proviant. Für dich extra dick mit Butter bestrichen. So gestärkt, wird uns also nichts so leicht umhauen können.“ Friedrich stieg über verstreute Wissensbücher, in denen es – was auch sonst – über Tiere und Pflanzen im Wald ging, hinweg, reichte Paul seine Hand und zog ihn auf die Füße. „Wir können dann also los?“, fragte er lieber noch einmal nach. „Sowas von!“ Paul schnappte sich seinen Rucksack. „Wer als Letzter unten ist, muss den anderen über den Bach Huckepack tragen!“, rief er Friedrich über die Schulter zu und sauste zur Tür hinaus. Der gluckste nur und ließ Paul laufen. Schließlich brauchte Friedrich seine Puste noch.
Mit flottem Schritt hielten sie auf den Waldrand zu. An diesem schönen Sommertag schien die Sonne auf die grünen Blätter und zauberte ein Schattenmuster auf den braunen Erdboden. Sehr viel los war hier allerdings nicht. Vielleicht dösten die Vögel, Füchse und Rehe noch vor sich hin. Aber das konnte sich ja jeden Augenblick ändern. Die Jungs hatten also ihre Ohren gespitzt und schauten in alle Richtungen.
Plötzlich hörten Paul und Friedrich zwei Stimmen. Sie schauten sich erstaunt um, konnten aber weit und breit niemanden entdecken. „Bist du dir ganz sicher, dass du nichts gesagt hast?“, murmelte Paul. Die Stirn in Falten gelegt und mit fragendem Blick antwortete Friedrich: „Denkst du ich bin ein Bauchredner? Ich habe keinen Pieps von mir gegeben!“ „Hätte ja sein können. Aber wenn du es nicht warst, und ich ganz bestimmt nicht, sollten wir lieber in Deckung gehen!“, schlug Paul vor. Die zwei Abenteurer machten vorsichtig drei Schritte rückwärts und versteckten sich hinter dem dicken Stamm einer Buche. Man konnte ja nie wissen, was in einem so tiefen Wald vor sich ging. Sie warteten gespannt.
Es war immer noch niemand zu sehen, doch die Stimmen wurden lauter und ärgerlicher:
„Du schimmliger Buckeltäubling! Ich habe sie gestern zuletzt in deinen fusseligen Pfoten gesehen!“, schimpfte Zottelpelz. „Nein, nein! Das stimmt nicht! Du hast sie zuletzt gehabt!“, schnappte Zipfelöhrchen, während er sich an seiner Knubbelnase kratzte, die immer besonders juckte, wenn er aufgebracht war.
Ärgerlich gab Zipfelöhrchen seinem Bruder einen kleinen Schubs. Der hielt sich erschrocken an dem stänkernden Trolljungen fest und schon purzelten beide als ein braunes Knäuel aus kurzen haarigen Armen und Beinen den Hügel hinunter.
Paul und Friedrich schreckten in ihrem Versteck zusammen. Aus den Farnen vor der Buche, kullerten zwei pelzige Tiere. Aber Moment mal! Der eine hatte eine Latzhose an und der andere trug einen Pulli mit bunten Flicken. Sie sprechen, tragen Kleidung und laufen aufrecht, das konnten doch keine Tiere des Waldes sein, oder? Ratlos sahen sich die Jungs an und konnten sich vor Staunen nicht von der Stelle rühren.
„Ui, ui, ui. Das war total unnötig! Immer musst du übertreiben. Mein ganzes Fell ist mit Himbeersaft bekleckert, und die Tannennadeln piken mich!“, maulte Zottelpelz. „Ach sei ruhig. Die Himbeeren kleben ebenso an meinem Bauch! Was beschuldigst du mich armen Ritterling auch?! Und trotzdem habe ich die dumme Tarnkappe nicht!“, schnappte sein Bruder zurück.
„TARNKAPPE?“, platzte es da laut aus Paul und Friedrich heraus. Ertappt sahen sich die zwei Trolljungen um, und stießen dabei einen kleinen Schreckenshickser aus.
Nachdem er sich wieder etwas gesammelt hatte, rief Zipfelöhrchen mutig und auch ein bisschen aufmüpfig: „Was haben wir denn hier? Zwei neugierige Menschenkinder! Was macht ihr in unserem Wald und warum belauscht ihr unser Gespräch?“ Kopfschüttelnd wandte er sich Zottelfell zu: „Die Menschen haben keine Manieren! Hören einfach bei sehr persönlichen Gesprächen zu.“
Das musste Paul jedoch sogleich richtig stellen: „Wir wollten nicht lauschen. Aber ihr wart so laut, dass man euch gar nicht überhören konnte!“ Friedrich hielt es währenddessen vor Neugierde nicht mehr aus. „Wer seid ihr eigentlich? Ihr seht nicht aus wie wilde Tiere, eher putzig“, wollte er mit einem vorsichtigen Lächeln wissen. Sofort fing Zipfelöhrchens Nase wieder an zu jucken. „Hat er uns gerade putzig genannt?!“, fragte er laut und ziemlich empört. Zottelfell machte ein wichtiges Gesicht, richtete sich zu seiner vollen Größe von einer Milchtüte auf und streckte seinen Zeigefinger hoch in die Luft. „Jawohl! Dieser Naseweis hat uns, die wir die hübschesten und schlauesten Wesen weit und breit sind, putzig genannt.“
Zipfelöhrchen machte einen katzengleichen Sprung, kletterte an Friedrichs Bein herauf und nahm auf seiner Schulter Platz. Er rutschte so nahe wie möglich an Friedrichs Ohr heran und flüsterte voll grimmiger Vorfreude hinein: „Na dann pass jetzt mal gut auf!“ Er gab seinem Bruder ein Zeichen. Zottelfell wusste sofort, was zu tun war. Mit einem kräftigen Atemzug blies er die stolze Brust – und die Backen gleich mit – auf. Als er den angehaltenen Stinkeatem mit einem Brüllknurren durch die viereinhalb Zähne wieder entweichen ließ, blitzten seine bernsteinfarbenen Augen besonders gefährlich. Zipfelöhrchen klatschte begeistert in die kleinen Pranken und rief: „Na? Erkennst du es jetzt? Wir sind natürlich Trolle, du Dummerchen!“
Mit einem geschickten Griff, stellte Friedrich das angeberische Kerlchen wieder auf dem Boden ab. Er rieb sich das noch immer klingelnde Ohr und sagte: „Ich dachte immer Trolle seien größer und bedrohlicher. Mein Opa hat mir erzählt, dass sie in den Nordländern wie Schweden oder Norwegen wohnen.“ Sein Gesicht leuchtete auf. „Ich muss ihm unbedingt erzählen, dass es auch bei uns welche gibt.“ Entsetzt schnappte Zipfelöhrchen nach Luft. „Gar nichts wirst du ausplaudern, du Borkenkäfer! Wir bleiben lieber im Verborgenen. So ist es viel leichter, euch Streiche zu spielen, und wir haben hier zwischen hohen Tannen und dunklen Höhlen unsere Ruhe!“
Zottelfell stieg auf einen Steinhaufen, stemmte die pelzigen Arme in die Seite und funkelte die zwei Jungen aufgebracht an. „Wehe, ihr petzt! Ich warne euch! Wir sind die besten Streichespieler des Waldes! Ach was sage ich? Natürlich weit und breit! Wie wäre es zum Beispiel, wenn euch am frühen Morgen eine Kröte aus eurem Müsli anblinzeln würde? Hm?“ Paul ging vor den Trollen in die Hocke und grinste. „Ist ja schon gut. Wir sagen nichts. Aber was ist jetzt mit der Tarnkappe? Gibt es die wirklich?“ Zipfelöhrchen zog eine buschige Augenbraue in die Höhe. „Glaubst du etwa wir lügen? Tse! Menschen! Müssen immer von sich selbst ausgehen. Natürlich gibt es die Tarnkappe!“ Zipfelöhrchen tippte sich nachdenklich an das kantige Kinn. „Mal sehen… Vielleicht könnt ihr uns ja doch behilflich sein.“ Der Trolljunge sah zu seinem Bruder hinüber, der erst mit den Schultern zuckte und ihm dann mit einem kurzen, aber kräftigen Nicken zustimmte. Und so erzählte Zipfelöhrchen Paul und Friedrich die ganze Geschichte von den süßen verbotenen Kirschen und der Tarnkappe:
Der verbotene Garten
Am Morgen hatten die zwei pelzigen Trolle mächtiges Bauchgrummeln bekommen. Etwas Schmatzeleckeres zum Essen musste her. Aber das sollte nicht irgendetwas sein, sondern reife, süße Kirschen, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen würden. Dummerweise gab es solche Köstlichkeiten nur in dem Garten vom Herrn Huber, und der wollte sie nicht teilen.
Herr Huber war ein wirklicher Griesgram, müsst ihr wissen. Der alte Herr hütete seine Kirschbäume, mit denen er viele Troll- und Kinderbäuche hätte füllen können, wie einen Schatz. Deshalb hatte er um seinen Garten einen hohen Zaun aus Holz gebaut.
Trotzdem wollten es Zipfelöhrchen und Zottelfell versuchen und mit dem Klauen von besonders schönen Früchten dem Herrn Huber eins auswischen. Dazu brauchten sie viel Geschick, und natürlich die Tarnkappe. Stülpte man sich diese über den Kopf, war man für die anderen unsichtbar.
Zuerst hatte sich Zottelfell getraut. Schnell war er auf die vor dem Zaun stehende Weide geklettert und hatte sich an den in den Kirschgarten hineinragenden Äste heruntergehangelt. Seine Füße waren auf herrlich weichem Gras gelandet. Der Troll hatte mit großen Augen in das Kirschparadies geblickt. „Wäre doch gelacht, wenn ich die Bäumchen nicht von ihrer süßen Last befreien könnte“, hatte er bei sich gedacht und über die Lippen geschleckt.
Der Troll hatte sich sogleich ans Werk gemacht. Wer genau hinschaute, konnte nur erkennen, dass die roten, glänzenden Früchte wie von Zauberhand erst kleine Beißspuren bekommen hatten und dann ganz verschwunden waren. Immer noch ungesehen, hatte sich Zottelfell dann die Taschen voll gemacht und war zu seinem ungeduldig wartenden Bruder zurückgekehrt, denn der wollte schließlich auch hinein ins Kirschvergnügen.
Die Bäuche ebenso gefüllt wie ihre Vorratsbeutel, hatten sie sich zufrieden auf den Heimweg gemacht. Doch erst, als die Trolle an den bekannten Bäumen ihres Waldes angekommen waren, war ihnen aufgefallen, dass sie die Tarnkappe nicht mehr hatten.
„Und dann haben wir angefangen, uns zu streiten. Womöglich haben wir sie doch im Garten des Alten vergessen. Wie sollen wir sie nur zurückbekommen?“ Zipfelöhrchen schluchzte laut auf. „Stellt euch das nur mal vor: nie wieder Streifzüge, auf denen wir Gartenzwerge unbemerkt umschubsen können!“ „Ach du lieber Sauerklee, was soll nur aus uns werden“, jammerte auch Zottelfell.
Friedrich kam da gleich eine Idee: „Das Hoch- und Runterklettern auf den Baum vor dem Zaun bekommen wir mit links hin. Und Magie braucht es auch nicht, um ungesehen in dem Garten vom Herrn Huber nach der Tarnkappe zu suchen. Schließlich haben Paul und ich extra für das Anschleichen und Beobachten in einem Tarngrün- und braun gefärbte Jacken und die dazu passenden Mützen. Wir finden eure Tarnkappe ganz bestimmt.“ Zottelfell kratze sich an seinem dicken Bäuchlein und platzte dann mit seiner gut eine Minute überdachten Entscheidung heraus: „Hach, was soll’s! Versuchen wir es!“
„Hier, ihr könnt euch so lange in unseren Rucksäcken verstecken“, schlug Paul vor. Zipfelöhrchen und Zottelfell setzten schnell ein paar Schritte zurück. „Was?! Wir sollen in diese dunklen, muffigen Dinger steigen? Nie und nimmer!“, schrie Zipfelöhrchen entrüstet. Paul machte seinen geräumigen Rucksack auf und packte seinen Teil der Ausrüstung in den Rucksack von Friedrich. „So, seht her: alles in Ordnung. Ich mache den Reißverschluss auch nicht ganz zu, sodass ihr herausschauen könnt. Seid doch nicht immer so misstrauisch.“ Mit trotzdem skeptisch zusammengekniffenen Augen stiegen die zwei Trolle leise knurrend in den Rucksack.
Nun zu viert, machten sich die Abenteurer auf den Weg zum Herrn Huber. Noch waren sie davon überzeugt, ihn überlisten zu können, aber ganz tief im Bauch, in der hintersten Ecke links, versteckte sich doch ein zwickender Zweifel. Kurz bevor sie in die Kirschgasse einbogen, steckte Zottelfell seinen Kopf etwas weiter aus dem Rucksack und verkündete: „So, gleich sind wir da!“ Es raschelte, als er sich etwas verlegen am strubbeligen Kopf kratzte. „Ach übrigens, wir haben vergessen, euch noch etwas Wichtiges zu erzählen. Möglicherweise, wenn nicht sogar ganz sicher, lauert hinter dem Zaun ein weißes Ungeheuer, das sich jeden schnappt, der auch nur einen Schritt in den Garten wagt.“
Paul stoppte. „Weißes Ungeheuer? Erst stolpere ich über Trolle und jetzt begegnet mir hier in Müpfelberg auch noch der Yeti?“ Zottelfell konnte sich vor Lachen nicht mehr halten und fiel zurück in den Rucksack. Aus dem Inneren erklang dumpf seine prustende Stimme: „Nein, du liegst ganz falsch. Der Spitz vom alten Herrn Huber mag vielleicht genauso riechen wie der Yeti, ist aber ein Hund – ein sehr gefährlicher wohl gemerkt.“ Paul und Friedrich rollten mit den Augen und atmeten erleichtert aus. Was sollte ihnen ein kleiner Hund schon anhaben können?
Dann sahen sie ihn vor sich: einen Holzzaun, zweimal so groß wie ein Erwachsener. Das war das Meisterwerk des Obstgartenbesitzers Heinrich Huber. Wie sollte man da nur hinüberkommen? Mutig erklomm Paul die ausladenden Äste der davor stehenden Weide. Oben angekommen, hielt er sich das Fernglas vor die Augen. Auch er sah die vielen schönen Obstbäume beladen mit den leckeren Früchten, die grüne Wiese mit den bunten Blumen und etwas, das in der Sonne sehr stark glitzerte. Paul teilte seine Beobachtung sofort mit. „Ja! Das ist sie!“, jubelten die Trolle.
Friedrich hatte mal wieder die Neugier gepackt. „Warum glitzert das Ding?“ Wollte er von den neben ihm vor Aufregung ganz zappeligen Trollen wissen. Zottelfell legte seinem Bruder, der sich über diese dumme Frage schon wieder aufregen wollte, beruhigend eine Hand auf die pelzige Schulter und erklärte es für den Menschenjungen extra langsam: „Was da schimmert, sind die vielen tausend Tautropfen der Tarnkappe, die durch Fäden von Schmetterlingkokons miteinander verwoben sind. Die Sonnenstrahlen brechen sich in den vielen Tröpfchen und lassen die Kappe daher wunderschön funkeln.“ Davon beeindruckt nickte Friedrich. Zottelfell ebenfalls, allerdings war er von seinem grandiosen Talent Dinge gut für Menschen erklären zu können beeindruckt.
Die Freude über die wiedergefundene Tarnkappe, wurde aber sogleich wieder getrübt, denn sie hing in dem Wipfel eines Kirschbaumes fest, der in der hintersten Reihe des Gartens stand.
Paul zog seine Stirn in Falten. Sollte er es wagen, in den Garten zu springen? Er würde sich schnell hinter einem Kirschbaum verstecken, ein Stück rennen und sich dann hinter dem nächsten dicken Stamm stellen. Ja, so käme man schnell an sein Ziel. Paul machte sich zum Absprung bereit: Er stellte seine Füße sicher auf den Ast, ging leicht in die Hocke und atmete tief ein – als plötzlich ein durchdringendes Bellen zu hören war. Der Yeti-Hund schlug Alarm!
Friedrich und die Trolle sahen hilflos zu Paul hinauf. „Paul! Komm runter! Schnell! Rückzug!“, schrie Friedrich und griff schon nach Zottelfells Schwanz, um ihn in den Rucksack zu stecken. Doch es war schon zu spät. Paul verfolgte mit schreckgeweiteten Augen, wie Herr Huber durch die grünen Zweige heranmarschierte.
Er sah nicht viel anders aus als die Stämme in seinem Garten: knorrig und mit einem Gesicht, das von tiefen Linien durchzogen war. Sein weißes, schon dünnes Haar, wurde von einer Schiebermütze bedeckt, deren grüne Karos von der Sonne schon ganz verblasst waren. „Na warte, Bengel!“, schrie er schon von weitem. Paul konnte sich vor lauter Anspannung nicht bewegen. Herr Huber hinkte zwar ein wenig, doch schnell wie ein Wiesel, war er am Zaun, und damit auch an Pauls Versteck angelangt.
Eine erfrischende Geschäftsidee
„Was starrst du so meine Bäume an? Ich weiß ganz genau, dass du es auf die Kirschen abgesehen hast“, sagte er mit tiefer Stimme, die sich für den ängstlichen Jungen wie ein Gewittergrollen anhörte. Paul streckte seinen Rücken durch und antwortete ihm nach einem zittrigen Räuspern: „Die Kirschen interessieren mich nicht. Sie haben etwas in Ihrem Garten, dass nicht Ihnen gehört.“ Die buschigen Augenbrauen des Alten fuhren in die Höhe. „ALLES in meinem Garten gehört mir! Ich kenne jeden Grashalm, jeden Strauch und jedes Blatt an den Bäumen. Wie kommst du auf solch einen Unsinn? Jetzt scher dich fort und lass mich und meine Kirschen in Ruhe!“
Da hielt es Zipfelöhrchen nicht mehr länger am Boden aus. Ratzfatz war er hinter Paul auf dem Baum, hopste in den Garten und baute sich mit den Händen in den Hüften vor dem Herrn Huber auf.
„Wir wollen unsere Tarnkappe wiederhaben, die wir heute Morgen hier beim Kirschenklauen verloren haben! Rücken Sie sie heraus!“ Erschrocken über das, was er gerade verraten hatte, hielt sich der Troll die Pranken vor den Mund.
Als Herr Huber den wütenden Troll erblickte, hatte es ihm die Sprache verschlagen. Allerdings hielt das nicht lange an. „Filou: Fass!“, erklang seine Donnerstimme. Das ließ sich der gehorsame Spitz nicht zweimal sagen. Er rannte so schnell los, dass seine vier weißen Pfötchen aussahen wie wirbelnde Schneeflocken. Paul reagierte prompt und sprang aus seinem sicheren Versteck. Auch Friedrich und Zottelfell hatten mitbekommen, was geschehen war und halfen sich gegenseitig, um schnell auf die Weide hoch und auch wieder herunter zu kommen.
Gegen ein kleines Trollwesen glaubte sich der Spitz behaupten zu können, aber als er sich der Stärke der vier Gefährten bewusst wurde, zog er ganz schnell den Schwanz ein und kehrte winselnd zu seinem Herrchen zurück. Mit hochroten Köpfen und pochenden Herzen standen nun Paul, Friedrich, Zottelfell und Zipfelöhrchen vor dem finster dreinblickenden Herrn Huber.
Als erster fand Friedrich die Worte wieder: „Lassen Sie unsere Trolle in Frieden! Sie sind wirklich ganz harmlos. Die zwei haben sich nur einen Scherz erlaubt. Ihnen tut es auch schrecklich leid. Nicht wahr?“ Friedrich schaute die Trollbrüder fragend an und hob Zipfelöhrchen vom Boden auf seine Handfläche. Der blickte erst erschrocken und dann erbost drein. Noch etwas ärgerlich grummelte er: „Ja, ja. Vielleicht. Aber der Herr Huber muss uns auch die Tarnkappe zurückgeben!“
Auch der alte Herr ließ sich nicht so einfach beschwichtigen. „Ich lasse mich nicht noch einmal an der Nase herumführen! Was, wenn diese Waldkobolde..! „TROLLE!“, unterbrach ihn Zipfelöhrchen erbost. Herr Huber wandte sich ihm mit zusammengekniffenen Augen zu. „Frechen KOBOLDE die Tarnkappe nutzen, um mich noch einmal zu bestehlen?“ „Oh, das hat er nicht noch einmal gesagt! Er ist derjenige, der frech ist! So darf er nicht mit uns reden!“, beschwerte sich Zottelfell.
Paul kratzte sich am Kopf, um besser nachdenken zu können. Ein Kompromiss musste gefunden werden. „Ha!“ Er klatschte vor Freude in die Hände, denn ihm war eine glänzende Idee gekommen. „Wer hilft Ihnen eigentlich bei der Ernte der Früchte? Und, was machen Sie mit den vielen Kirschen? Schließlich können Sie die doch nicht alle alleine essen“, fragte er den Obstgartenbesitzer.
Nun hatte Paul die Ehre, Herrn Hubers ganze grantige Aufmerksamkeit für sich zu haben. „Keine einzige Kirsche geht bei mir verloren oder wird verschwendet. Ich koche sie mit Zucker ein und bewahre sie in großen Einmachgläsern auf. Vielleicht kommen Sommer, in denen nicht so viele Früchte wachsen. So habe ich immer einen Vorrat.“ Friedrich rechnete schnell nach und stellte fest, dass Herr Huber einen Haufen Gläser haben müsste. Damit hatte er auch gar nicht unrecht: In dem blauen Gartenhäuschen des alten Herren drohten die Regale unter dem Gewicht der Kirschgläser jeden Moment zu brechen. Aber Herr Huber konnte sich nun mal von keinem trennen.
„Warum machen wir nicht einen Kirschlimonadenstand auf?“, schlug Paul vor. „Wir helfen Ihnen mit der Ernte und teilen uns das eingenommene Geld. So brauchen Sie auch keine Angst zu haben, dass Zottelfell und Zipfelöhrchen welche mit der Tarnkappe klauen und können diese den Trollen wiedergeben. Schließlich sind wir dann Geschäftspartner.“
Herr Huber schaute abwechselnd Zipfelöhrchen, Zottelfell und die beiden Jungs an. Hilfe könnte er tatsächlich gebrauchen. Der Rücken tat ihm abends doch schon etwas weh. Und ein bisschen Geld in der Kasse war immer gut. Sein Häuschen hatte Löcher im Dach, die dringend repariert werden mussten.
Herr Huber hatte sich entschieden. Er willigte ein. Die vier Freunde mussten ihm aber versprechen, keinen Schabernack zu treiben. Den Trollen würde das zwar sehr schwer fallen, doch auch sie nahmen sich vor, nicht all ihre Flausen in die Tat umzusetzen. Paul und Friedrich strahlten über das ganze Gesicht. Mit dieser Idee war schließlich allen geholfen.
Der Kirschlimonadenstand
Alle machten sich gleich ans Werk. Sie füllten Eimer für Eimer füllten mit den leckeren Kirschen. Die Trolle waren durch ihre vorherigen Stibitzaktionen die perfekten Erntehelfer, da sie blitzschnell auf die Bäume klettern und auch bequem ohne eine Leiter die Kirschen in den Baumwipfeln erreichen konnten.
Herr Huber hatte, da er nie etwas so leicht wegschmeißen konnte, hinter seiner Hütte ein paar alte Bretter, aus denen man eine Bude bauen konnte. Gemeinsam hatten sie bald mit Hämmern, Nägeln und frischer Farbe, einen 1A Kirschlimonadenstand zusammengezimmert.
Herr Huber war von dem Eifer und dem Geschick der Kinder und Trolle ganz überrascht. Der schusslige Zottelfell hatte zwar seinem Bruder aus Versehen mit dem Hammer auf den großen Zeh gehauen, und Friedrich lutschte konzentriert an seinem Daumen, in dem ein Schiefer steckte, aber sonst hatten sie Hand in Pfote gearbeitet.
Zufrieden brachten sie noch das letzte Brett an, auf das Friedrich, der in Kunst immer gute Noten hatte, mit roten, schwungvollen Buchstaben: „KirschTrollmonade“, gepinselt hatte. Zipfelöhrchen und Zottelfell tauchten noch ihre Pfoten in eine kräftige, grüne Farbe und verzierten das Werk mit besonders schönen Tapsern.
Da stand nun die fertige Bude, aber sie hatten immer noch keine Kirschlimonade, die sie verkaufen konnten Ein Rezept für tolle und super leckere KirschTrollmonade musste her. „Da frage ich am besten meine Oma“, schlug Paul vor. „Dann machen wir morgen weiter. Es ist schon spät“, beschloss Herr Huber und ließ sich mit einem Stöhnen auf einer Gartenbank nieder. Die Trolle waren auch schon ganz müde und krochen freiwillig in den Rucksack. „Halten Sie sich für morgen bereit. Wir werden ganz groß rauskommen, denn jeder, der unsere Limonade erst einmal probiert hat, wird nicht genug davon bekommen können“, sagte Zipfelöhrchen gähnend und winkte zum Abschied mit der Tarnkappe. Die hatte Herr Huber mit einem langen Stock von seinem Kirschbaum für die Trolle heruntergeholt.
Auf der Kirschgasse stehend, mit einem guten Gefühl im Bauch, sahen sich Friedrich und Paul noch einmal um. Im roten Licht der untergehenden Sonne standen der alte Obstgartenbesitzer und Filou vor dem großen Zaun und schauten ihnen nach.
Paul winkte, und Herr Huber zeigte ihnen ein kleines Lächeln. Paul fragte sich, wann er dieses wohl zum letzten Mal jemandem geschenkt hatte.
Am nächsten Tag trafen sich Paul und Friedrich mit den zwei Trollen an der Stelle, an der sie sich zum ersten Mal begegnet waren. „Na endlich!“, rief Zottelfell ungeduldig. „Wir sind hier schon fast angewachsen. Habt ihr auch alles dabei?“ Paul winkte mit dem Rezept seiner Oma. Friedrich ließ seinen Rucksack neben den Trollen auf den Boden plumpsen. „Wenn die Herrn Trolle bitte einsteigen würden.“ „Sehr witzig!“, brummelte Zipfelöhrchen, während Zottelfell nur mit den Schultern zuckte und bemerkte: „Also langsam macht mir diese Art zu Reisen Spaß.“
Auch Herr Huber wartete schon ungeduldig vor seinem Gartentor. Die ganze Nacht hatte er nicht schlafen können und sich so oft in seinem Bett herumgedreht, dass die Kirschgläser am Ende seiner Baumwolldecke nur so geklirrt hatten.
„Kommt schnell herein! Ich habe schon meine größte Schüssel auf den Küchentisch gestellt und ein bisschen Platz für unser Vorhaben gemacht“, sagte Herr Huber und führte die Freunde in die hinterste Ecke seines Gartens. Dort stand ein Holzhäuschen. Die Veilchenblaue Farbe der Bretter war schon verblasst und an einigen Stellen abgeplatzt, und irgendwie war es auch ein bisschen schief, aber trotzdem machte es den Eindruck, als müsste es drinnen sehr gemütlich sein.
Sie staunten nicht schlecht, als sie die vielen Kirschgläser sahen. Herr Huber bemerkte wohl die großen Augen seiner Gäste und zuckte nur mit den Schultern. „Die Gläser können wir gut verwenden. Die Kirschen darin sind schön süß und weich“, merkte er an. „Das wird viel Limonade ergeben. Damit könnte man die ganze Stadt versorgen“, kicherte Friedrich.
Das Rezept war auch keine Hexerei. Paul machte ein Glas von den bereits eingemachten Kirschen auf, mischte sie mit den frischen Früchten aus dem Garten und verarbeitete alles mit dem großen Kartoffelstampfer vom Herrn Huber zu Mus. Anschließend strich Friedrich das Mus durch ein Sieb. Der so entstandene Saft wurde in einem großen Topf langsam erwärmt und der Zucker von den Trollen hineingeschüttet. „So. Nachdem der ganze Spaß abgekühlt ist, geben wir zu dem konzentrierten Kirschsaft noch klares Wasser und einen Spritzer Zitrone hinzu“, erklärte Paul, während er noch einmal auf das Rezept von seiner Oma linste.
Gespannt schaute ihm Herr Huber über die Schulter. Er hatte davon nämlich überhaupt keine Ahnung und begnügte sich mit der Aufgabe, ihm die nächste Zutat zu reichen. Etwas skeptisch blickte Zottelfell in die Schüssel mit der roten Flüssigkeit. „Mit etwas Schneckenschleim und Krötenspucke würde die Limonade besser schmecken.“ Friedrich und Paul schüttelten energisch die Köpfe. „Spaßverderber. Wissen nicht, was gut ist“, murmelte Zottelfell.
Um die große Schüssel zu ihrem Stand, den sie schon vor den Zaun geschoben hatten, befördern zu können, mussten alle mit anpacken. Das war eine ganz schön wackelige Angelegenheit. Beinahe wäre der ganze Trunk auf der Wiese gelandet. „Puh!“, sagte Herr Huber. „Hoffentlich kommt auch jemand. Immerhin bin ich in dieser Straße nicht sehr beliebt“, gab er traurig zu bedenken. „Ach was!“, winkten Zottelfell und Zipfelöhrchen ab. „Wir sind so lustige Gesellen. Friedrich hat uns bei unserer ersten Begegnung sogar putzig genannt. Uns wird schon etwas einfallen!“
Und wirklich: Von dem süßen Duft angelockt, kamen immer mehr Neugierige, die einen Blick auf den Stand und die auffälligen Verkäufer warfen. Grinsend saßen die zwei Trolljungs auf einer Kiste neben dem Stand und riefen:
„Guten Tag, ihr durstigen Menschen! Kommt zu uns, denn hier gibt es die leckerste Limonade der ganzen Stadt! Wir haben für Euch nur die süßesten Kirschen aus dem Garten vom lieben Herrn Huber gesammelt!“
Herr Bieber war der Erste, der sich einen Becher kaufte. Er kostete ganz vorsichtig, und über sein Gesicht huschte ein Lächeln. „Ja, die werde ich weiterempfehlen“, sagte er zufrieden. Die Verkäufer freuten sich riesig. Ihr erster Verdienst! Nachdem sich Herr Bieber getraut hatte, wollten auch Frau Meyer aus der 52b, Flora von dem kleinen Blumenladen an der Ecke und Bruno mit seiner Mama die Limo probieren. Es dauerte nicht lange, und schon hatte sich an dem kleinen Stand eine Schlange gebildet. Die Kirschgasse war mit dem Lachen und Gesprächen von zufriedenen Kunden erfüllt.
Mit jedem ausgeschenkten Becher wurde es Herrn Huber leichter um die Brust. Er beschloss seinen Zaun abzureißen, und damit nicht nur seinen Garten, sondern auch sich für liebe Menschen zu öffnen.
„So einen schönen Tag hatte ich schon sehr lange nicht mehr“, sagte Herr Huber mit einem Leuchten in seinen Augen, nachdem auch der letzte Schluck der KirschTrollmonade verkauft war. „Ja, er war nicht übel. Wir lernen immer mehr Menschen kennen, die gar nicht so garstig sind. Ein Mädchen hat mir sogar die Hälfte von ihrer Schokolade abgegeben, obwohl sie die auch gerne selbst gegessen hätte“, antwortete ihm Zottelfell und schleckte seine linke Pfote ab, an der noch ein kleiner Rest klebte.
„Nur noch eine Nacht, dann beginnt wieder ein neuer Tag, der mindestens genauso schön wird. Schließlich gibt es bei Ihnen im Garten noch eine Menge zu tun, und wir helfen natürlich gerne“, fügte Paul hinzu. Da konnte Herr Huber nicht mehr länger an sich halten und tätschelte dem Jungen freundschaftlich die Schulter.
Er hatte das Gefühl nun nicht mehr einsam sein zu müssen, denn er hatte nicht nur Erntehelfer, sondern auch vier Freunde gefunden.
Auch die Trolle hatten heute gemerkt, dass man auch ohne Schabernack zu treiben, einen riesigen Spaß haben kann. Trotzdem werden sie es wohl nicht lassen können, die Tarnkappe herauszuholen. Schließlich muss doch regelmäßig überprüft werden, ob sie noch funktioniert. Wenn ihr also in einem Garten mal Gartenzwerge seht, die nicht geradeaus, sondern liegend in die Luft gucken, dann wisst ihr, dass Zipfelöhrchen und Zottelfell ihnen einen Besuch abgestattet haben.