Welt der Menschen/Alfheim
„So ein langweiliger Waldspaziergang! Jeden Sonntag das Gleiche“, grummelte Marlene und lief extra noch ein bisschen langsamer, um ihre Eltern etwas zu ärgern. Mama, die sich einige Schritte vor ihr bei Papa untergehakt hatte, drehte sich kurz um. „Du verschwindest noch hinter deinen Büchern. Dein Gesicht ist schon ganz blass. Ein bisschen frische Luft tut dir ganz gut. Glaub mir.“ Wenn sie wüsste, dass es gar nicht so sehr um das Draußensein ging, sondern mehr um dieses langweilige Geradeauslaufen ohne Sinn und ohne ein wirkliches Ziel zu haben.
Marlene jammerte: „Wo wollen wir eigentlich genau hin? Können wir dann nicht wenigstens beim Eiscafé DaVinci Halt machen? Mir ist heiß und ich brauche eine Abkühlung…“
Ihre Mutter, Elise Maulbeer, blieb ruckartig stehen und schaute sie mit diesem schrecklich verständnisvollen Blick an, den sie als Kindergartenleiterin auch den lieben Kleinen zuwarf: „Unsere ganze Woche ist hektisch und schnell. Lass die Schönheit der Natur doch einfach mal auf dich wirken und entspanne dich. Das ist das Ziel.“ Jürgen Maulbeer drückte seiner Tochter einen Kuss auf den Scheitel. „Deine Mutter hat Recht, Spätzchen. Vergiss mal für einen Augenblick deine Feen und Trolleriche. Schau dich um! Hier gibt es auch viel Spannendes zu entdecken.“ Marlene zog die Augenbrauen zusammen. „Trolle, Papa. Nicht Trolleriche.“ „Wie auch immer, mein Sonnenschein. Nun hab dich nicht so und komm.“
Das war ja wieder so typisch für die zwei. Ihre Eltern nahmen sie überhaupt nicht ernst. Für Mama war ihre Leidenschaft für Fantasiebücher nur eine Findungsphase auf ihrem Weg des Erwachsenwerdens. Auch Papa, der den ganzen Tag nur Zahlen und kryptische Wortfetzen in seinen hell strahlenden Computer eingab, interessierten fabelhafte Wesen und Geschichten nicht die Bohne.
Marlene schmollte weiter. Die Natur auf sich wirken lassen… Pfft! Was waren schon die zwitschernden Vögel gegen Drachen mit Augen wie glühende Kohlen und das Hopsen der Eichhörnchen gegen das Hufeschmettern der Zentauren oder das furchteinflößende Stampfen von Steintrollen? Alles hier war so schrecklich normal, ohne das leiseste Flüstern eines Versprechens auf Abenteuer.
Marlene schnaubte und kickte einen Tannenzapfen weg. Nach einem dumpfen „Plonk“ hörte sie ein entsetztes „Aua!“ Marlene verließ den Weg und trat zwischen die ersten dünnen, dicht nebeneinander stehenden Baumstämme. „Es tut mir leid, wenn ich Sie getroffen haben sollte. Das war nicht mit Absicht!“, rief sie vorsichtig in den Wald hinein. „War es doch, du ungehobeltes Menschenkind!“, schimpfte jemand, dessen Stimme komisch entfernt klang. Marlene blickte sich suchend um. Niemand war zu sehen. Wer trieb da ein solches Spiel mit ihr? Sie schüttelte den Kopf. Bevor Marlene sich jedoch zum Gehen umwandte, flüsterte sie mit Nachdruck: „War es nicht!“
Da traf sie ein Tannenzapfen an der rechten Schulter. Ein Mädchen mit rotem Haar, aus dem zwei spitze Ohren hervorlugten, war hinter einem dicken Baumstamm hervorgetreten. Gerade ließ die Gestalt schnell wieder ihren Arm sinken. Marlene wollte auf sie zugehen, hielt jedoch inne. Mit dem Mädchen stimmte etwas nicht. Es war da und doch nicht wirklich da. Der Körper war ein Schatten seiner selbst, so blass, dass man die Bäume durch ihn hindurch sehen konnte.
Als das seltsame Mädchen Marlenes erstaunten Blick bemerkte, schaute es sie aus vor Schreck geweiteten Augen an. „Oh, nein! Das darf nicht sein. Du darfst mich nicht sehen!“, flüsterte es erschrocken. Das Mädchen drehte sich mit Schwung um, sodass sein Mantel wie eine grüne Welle über ihm zusammenschlug und rannte davon.
Marlene stutzte, lief dem Mädchen dann aber doch nach. „So warte doch, ich tue dir nichts!“ Das Mädchen aber dachte nicht daran, anzuhalten. Es schaute immer wieder nervös über die Schulter, bewegte sich im schnellen Zickzack und war plötzlich verschwunden – wie vom Waldboden verschluckt.
Marlene blieb stehen. Die Beine zitterten und ihre Brust brannte von der rasanten Verfolgungsjagd. Schwer atmend hob sie ihren Kopf und schaute sich noch ein letztes Mal suchend um.
Da! Ganz schwach im schummrigen Licht der späten Nachmittagssonne sah sie die blasse Gestalt zwischen den Mauern einer Ruine verschwinden. „Hab ich dich!“, flüsterte Marlene und fragte sich dann, warum sie diese alten Steinhaufen bei den bisherigen Spaziergängen mit ihren Eltern nicht bemerkt hatte. Sie zuckte mit den Schultern. Vermutlich waren sie immer brav den Wanderwegen gefolgt und noch nie in diesem Teil des Waldes gewesen. Kein Grund, jetzt einen Rückzieher zu machen!
Sie zwang ihr schnell schlagendes Herz zur Ruhe und setzte einen Fuß auf die niedrige Mauer. Vor Jahrhunderten wohl ein beeindruckender Schutzwall gewesen, hielten nun die von Witterung und Zeit geschundenen Steine kaum ihr Gewicht aus. Schnell sprang sie in den Innenhof der Ruine, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.
Marlene drehte sich langsam einmal um sich selbst. Lose aufeinandergestapelte Steine markierten Gebäude, die früher vielleicht einmal Gesindehäuser, ein Stall oder eine Schmiede gewesen sein könnten. Treppenstufen führten an einer Wand ins Leere. Auf einigen Stufen waren helle Sonnenflecken. Die Strahlen erreichten den kühlen Stein durch kleine Vierecke, die in die Mauer eingelassen waren.
Auf der linken Seite befand sich ein Turm, auf dessen Spitze jemand eine Flagge gehisst hatte. Marlene sah ganz deutlich, dass sich der Stoff wild im Wind bewegte, doch sie hörte kein Flattergeräusch. Man sollte es aber hören! Überhaupt war es hier merkwürdig still: kein Vogelgezwitscher, kein Blätterrauschen. Marlene wurde es nun doch etwas zu komisch. „Du träumst, Marlene! Du musst das hier alles träumen. Schattenmädchen, gruselige Ruinen – du hättest das spannende Buch aus dem Antiquariat gestern Nacht einfach zuklappen sollen! Ich bin nur müde und reime mir komische Dinge zusammen – das ist alles!“, versuchte sie sich zu beruhigen.
Doch dann zuckte sie zusammen, als sie doch etwas hörte: ein Raunen, als würde etwas, das sehr lange geschwiegen hatte, seine Stimme erheben. Es gelangte nicht deutlich genug an ihr Ohr, zerrte aber an ihr. Es wollte, dass sie lauschte. Marlene schüttelte leicht den Kopf. Nein! Sie würde jetzt nicht kneifen. Möglicherweise war das ja ihre Chance auf ein wirkliches Abenteuer!
Marlene umging eine Seitenmauer aus gesprungenen Steinen. Und machte gleich wieder drei Schritte zurück, um sich dahinter verstecken zu können. Das blasse Mädchen war noch hier! Fast wie ein Geist – oder eben nicht. Vielleicht handelte es sich hierbei wirklich um ein übernatürliches Wesen?! Es bewegte sich schwebend leicht auf einen Torbogen zu und blieb davor eine ganze Weile einfach nur still stehen. Marlene presste ihren Rücken fest an die Mauer, um nicht entdeckt zu werden. Den Kopf hielt sie weit zur Seite gedreht, um etwas sehen zu können. Mit jeder verstreichenden Sekunde schmerzte ihr Nacken mehr und die Kanten der Steine bohrten sich etwas tiefer in ihren dünnen Pullover. Doch Marlene bewegte sich keinen Millimeter.
Da hob die Gestalt die Arme und hielt die offenen Handflächen zum Bogen hin. Ein paar merkwürdig klingende Worte wurden von ihr mehr gehaucht als geflüstert. Sie wiederholte diese immer wieder, bis auf ihrer Stirn ein Netz aus feinen Linien erglomm. Ihre Stimme wurde lauter, die Linien heller. Nun schien es fast, als würde die zarte Person selbst aus Licht bestehen.
Dann fiel ein erster Tropfen, glänzend wie Gold, zu Boden. Ihm folgten mehr und mehr, bis daraus ein wahrer Goldregen wurde. Das Mädchen blickte sich noch ein letztes Mal um, bevor es den Mantel enger um sich zog und hindurchschritt. Dann war es verschwunden. Einfach verschwunden! Das merkwürdige Mädchen kam auf der anderen Seite des Goldregens nicht mehr heraus.
„Folge ihr! Wir sind bei dir. Das Portal wird dich passieren lassen.“ Wieder hörte Marlene die merkwürdigen Stimmen, aber diesmal sprachen sie Worte, die Marlene verstand. Sie riss die Augen weit auf, drehte ihren Kopf wild nach rechts und links. Da war niemand! Die Stimmen schienen nur in ihrem Kopf zu sein. Trotzdem sagte Marlene laut: „Ich bin nicht die, für die ihr mich haltet! Ich werde und kann da nicht hindurchgehen!“ Da durchfuhr ihren Körper ein kräftiges Rauschen. Die Lautstärke der Stimmen schwoll an: sie flehten, schimpften, baten sie, zuzuhören. „Du bist es! Du bist es!! Bring uns nach Hause! Bitte!“
Die goldene Lichtquelle am Torbogen versiegte langsam. Marlenes Herz klopfte wild in ihrer Brust. Sie machte einen vorsichtigen Schritt auf das Portal zu. Nur noch ein paar Tropfen fielen herab. Für das Abwägen einer mutigen oder einer vollkommen wahnwitzigen Entscheidung blieb keine Zeit. Ihr Körper reagierte, noch bevor ihr Kopf einen Gedanken formen konnte. Sie rannte hindurch.
Auf der anderen Seite hielt Marlene die Augen immer noch fest geschlossen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Es fühlte sich ein bisschen wie die Aufregung vor einem Mathetest an. Sie tat also, was sie auch vor dem Eintreffen von Herrn Peters tun würde: dreimal tief ein- und ausatmen.
Es half. Zumindest ein bisschen. Marlene öffnete ein Auge. Ihr entfuhr ein Keuchen, das eine Mischung aus Überraschung und Erleichterung war. Sie stand noch immer auf der Lichtung! War das hier gerade wirklich geschehen? Marlene merkte ein leichtes Kribbeln auf ihrem Arm und hob ihn vor das Gesicht. Goldene Tropfen rannen daran hinab und verschwanden dann mit einem letzten Aufblitzen. Ein frischer Wind blies ihr eine braune Strähne aus dem Gesicht und den würzigen Geruch der sie noch immer umgebenden Fichten und aufgewühlter Erde entgegen. „Es ist echt. Kein verschwommener Traum“, stellte sie mit einem ehrfürchtigen Flüstern fest. Marlene brauchte ein paar Sekunden, bevor sie sich mit einem freudigen Auflachen von dem letzten Zweifel befreite. „Ich bin tatsächlich durch ein Portal gegangen!“
Aber mit der Hoffnung, dass sie nun zur Heldin ihrer eigenen Geschichte werden könnte, stürzten auch Fragen auf sie ein: An welchem Ort war sie gelandet? War sie noch in der Menschenwelt in derselben Zeit oder gar in einer anderen Welt? War sie hier willkommen oder lauerten hinter der nächsten Ecke schon die ersten Gefahren?
Kleine Schauer jagten ihr über die empfindliche Haut. Marlene schlang die Arme schützend um ihren Oberkörper. Dann streckte sie den Rücken durch und sprach sich selbst Mut zu: „Sei kein Hasenfuß! Los! Hinein ins Abenteuer!“ Mit festen Schritten hielt sie auf die dunkelgrüne Linie zu, die die Grenze zum Wald kennzeichnete.
Marlenes Blick heftete sich auf das Muster aus Schatten und Licht auf dem braunen Waldboden. Da blendete sie etwas so stark, dass sie blinzeln musste. Zwischen dem Wurzelwerk eines umgestürzten Baumes klemmte ein kleiner Zweig. Er glänzte und funkelte, obwohl kein Sonnenstrahl ihn berührte. Langsam ging sie darauf zu. Als Marlene nach ihm greifen wollte, fauchte sie etwas aus dem Schatten an und streckte seine schwarze, knochige Hand nach dem Zweig aus. „Nein! Schnell! Nimm ihn!“, rief eine hohe Stimme panisch hinter ihr. Marlene überlegte nicht lange und schnappte sich schnell das Wunderding. Das Wesen aus der Dunkelheit stieß einen schrillen Schrei aus und brach aus seinem Versteck unter den Wurzeln hervor. Marlene war starr vor Schreck. Sie tat keinen Schritt, hielt den Zweig aber fest umklammert.
Herumwirbelnde Schatten bildeten einen schmalen kahlen Kopf, unter dem sich ein Körper in die Länge zu ziehen begann. Die düstere Gestalt glitt geräuschlos über den Boden, bis sie direkt vor ihr schwebte. Sie blickte Marlene aus leeren, trüben Augen an, als sei darin ewiger Nebel aufgezogen. Schwarze Fäden lösten sich aus dem Schattenumhang und krochen langsam Marlenes rechtes Bein hoch, schlängelten sich um ihren Bauch, den Arm, bis sie fast die Hand mit dem Zweig erreicht hatten. Marlene zitterte. Nicht nur vor Angst, sondern auch wegen der beißenden Kälte, die nun von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte.
Die Begegnung dauerte nur ein paar Wimpernschläge, doch für Marlene fühle es sich wie Stunden an. Noch ein wenig länger und sie hätte aus dieser weißen, kalten Leere vielleicht nicht mehr herausgefunden. Da sackte die Gestalt plötzlich in sich zusammen und verschmolz wieder mit der Dunkelheit, aus der sie gekommen war.
Marlenes Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Sie knickten ein, sodass Marlene sich auf dem erdigen Boden wiederfand. Neben ihr kniete das Mädchen mit den roten Haaren. Fassungslos starrte Marlene sie an und flüsterte: „Du bist wirklich hier!“ Fasziniert versuchte Marlene alles von ihrer Gestalt aufzunehmen. Sie war kein Geist, keine blasse Hülle! Die Haare hatten nicht länger die Farbe von Fuchsfell, sondern leuchteten wie lodernde Flammen. Die wilden Locken bildeten einen Kontrast zu dem edlen Gesicht, das so hell und kühl wie Perlmutt strahlte.
„Danke! Fast hätte der Njól ihn gehabt“, hauchte das schöne Mädchen. Es stemmte sich wieder hoch auf die Beine und zog dabei Marlene mit erstaunlich großer Kraft mit sich. „Das war ganz schön knapp.“ Es pustete sich eine wirre Strähne aus der Stirn und forderte: „Du kannst mir den Zweig jetzt wiedergeben. Er muss mir bei meiner Flucht aus der Tasche gefallen sein.“ Kein Wort kam über Marlenes Lippen. Dabei tobte in ihrem Kopf ein Wirbelsturm aus Fragen. „Mach schon. Er gehört dir nicht“, drängelte das merkwürdige Mädchen. Marlene schluckte. „Erst, wenn du mir verrätst, wer oder was du bist, warum du vor mir weggelaufen bist und vor allen Dingen, wo ich hier gelandet bin!“
Das rothaarige Mädchen legte misstrauisch die Stirn in Falten, sodass sich die feinen dunkelgrünen Symbole darauf zu schrägen Linien verzogen. Schon wenn sie diesem neugierigen Ding ihren Namen und ihre Herkunft verraten würde, würde sie die wichtigste Regel ihres Volkes brechen: Vertraue keinem Menschen! Die Rundohren sind egoistisch, gierig und hinterlistig. Sie handeln stets zu ihrem eigenen Vorteil. Aber nun war das Menschenmädchen nicht länger unter seinesgleichen, sondern hier. Was sollte es schon anrichten können?
Die Elfe atmete tief ein und fuhr fort: „Na gut“, begann sie mit fester Stimme. „Du befindest dich in Alfheim, dem Reich der Lichtelfen. Mein Name ist Alsuna und ich bin eine von ihnen.“ Jetzt war es raus. Alsuna wartete auf ein entsetztes Aufschreien, doch das Mädchen schien keineswegs überrascht oder gar verängstigt. Alsuna las in ihrem Gesicht nur eine stumme Erkenntnis, als habe sie schon geahnt, dass sie sich nicht mehr in der Menschenwelt befindet.
Marlene reichte ihr mit einem freundlichen Lächeln die Hand. „Hallo. Es freut mich dich kennenzulernen, Alsuna die Lichtelfe.“ Als Marlene aber bemerkte, mit welch Skepsis Alsuna diese Geste verfolgte, ließ sie die Hand sofort wieder sinken und versuchte es langsamer: „Nun, da du mir deinen Namen genannt hast, verrate ich dir auch meinen: ich heiße Marlene…Marlene Maulbeer.“ Nun konnte sie aber ihre Neugier nicht länger zurückhalten und fragte höflich: „Passiert es häufig, dass Elfen in unseren Wäldern spazieren gehen?“ Alsuna schnappte nach Luft und versuchte, sich ihre Empörung nicht in vollem Ausmaß anmerken zu lassen. „Nein, das kommt so gut wie nie vor! Elfen haben es nicht nötig, einen Fuß in die Menschenwelt zu setzen. Außerdem bin ich nicht spazieren gegangen, sondern…“, sie zögerte, „…habe nach etwas aus der Elfenwelt gesucht, was dich nicht zu interessieren hat.“ Marlene nickte. Sie wollte der Lichtelfe nicht zu nahe treten und händigte ihr wie versprochen den Zweig aus. Schnell schob Alsuna ihn unter ihren Mantel.
Marlene klopfte sich Erde von ihrem Pullover und versuchte, eine weitere Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen: „Und was ist das nun für ein Zweig?“
Wieder fand Alsuna, dass das neugierige Menschenkind einen Schritt zu weit ging. Sollte sie wirklich Geheimnisse ihres Volkes verraten? Elfen können nicht lügen. Es gab dann also kein Zurück mehr. Aber irgendetwas hatte diese Marlene an sich. Als sie dem Schattenwesen, einem Njól, gegenübergestanden hatte, konnte Alsuna ganz deutlich ein Aufleuchten von starker Magie gegen ihn erkennen. Nur deshalb hatte sich der Finstere wieder verkrochen. Woher kam diese Magie? Und wie sollte Marlene sie kontrollieren können, wenn sie noch nicht einmal von ihr wusste? War das gefährlich oder nützlich? Alsuna entschied sich für nützlich. Sie hatte schon jetzt so viel aufs Spiel gesetzt, vielleicht konnte sie die Kräfte dieses Menschenkindes für ihre Sache nutzen.
„Alsuna?“ Marlenes besorgte Stimme holte die Elfe wieder in das Hier und Jetzt zurück. Alsuna wollte Marlene nicht noch weitere gefährliche Fragen stellen lassen. Darum beeilte sie sich, auf die bereits von ihr gestellte zu antworten: „Der Zweig heißt in unserer Sprache „Mirandolor“, in der eurigen „Tränenkristall“. Er ist einer der wertvollsten Schätze des Waldes. Über diesen einst harmlosen Zweig sind über Jahrhunderte die Tränen seines Mutterbaumes geflossen und haben ihn in einen in tausend Facetten scheinenden Kristall gewandelt. Dieser Kristall trägt die gesamten Erinnerungen des Baumes in sich. Denn es waren sowohl Tränen der Trauer, für all die Unglücklichen, die unter der schützenden Krone Trost gesucht haben, als auch Tränen der Rührung und Freudentränen über fröhliche Elfen, Feen, Irrlichter und Waldschrate, die Hand in Hand um den Stamm ihren lustigen Reigen getanzt haben.
Dieser Zweig gehört zu einer Esche, einem Lebensbaum, der das Zentrum unseres Reiches markiert. So schön der Mirandolor auch ist, er gehört allein dem Baum und darf nur gebrochen werden, wenn das Volk der Lichtelfen in großer Not ist.“ „Was passiert mit der Esche, wenn sie ihren Erinnerungszweig verliert?“, fragte Marlene nach. Alsuna seufzte tief. „Sie stirbt nicht. Jedoch werden die sonst in allen Grüntönen schimmernden Blätter erst grau, bevor sie abfallen und nur noch nackte Äste zurücklassen. Erst wenn das Elfenvolk wieder sicher ist, beginnen neue Blätter zu sprießen.“
Marlene schaute Alsuna unter vor Sorge zusammengezogenen Augenbrauen an. „Also steht es nicht allzu gut um das Elfenvolk, wenn du den Mirandolor unter deinem Mantel trägst. Warum ist dieses gruselige Nebelauge daran so sehr interessiert?“ „Mirgos, der König der Dunkelelfen, Herr über Schwarzalfheim, streckt seine kalte Hand nach der Krone der Lichtelfenkönigin aus. Er will sich mit seinen finsteren Untertanen aus dem dunklen, unterirdischen Reich erheben. Alle Kreaturen des Lichts sollen ihr Knie vor ihm beugen. Der Mirandolor ist der Schlüssel für eine verborgene Kammer im Stillen Berg, einer der zwei steinernen Riesen, unter denen er Hof hält. Ohne den Mirandolor ist ihm der Zutritt zu einer Kammer verwehrt, in der sich die mächtigste magische Quelle dieser Zeit befindet: das Herz von Karún.“
Alsuna hob stolz ihr Kinn. „Ich werde zur Kammer vordringen und das Herz von Karún unserer Lichtelfenkönigin Arisa bringen. Dies wird mir einen Platz in der königlichen Weißen Wache ermöglichen.“ Dass sie gestern Nacht vor den besagten Weißen Wache geflohen war, nachdem sie den Mirandolor aus der königlichen Schatzkammer entwendet hatte, behielt Alsuna aber erst einmal für sich. Es war nicht die Königin, die sie mit der Suche nach der Quelle beauftragt hatte. Alsuna war nur die Tochter des Hauptelfen der Weißen Wache. Dafür gehörte sie dank dem strengen Unterricht ihres Vaters und ihrem starken Willen zu den geschicktesten Bogenschützen des Reiches. Zu Alsunas großen Enttäuschung hatte ihr Vater sie jedoch nicht in die Riege der Krieger gewählt, die sich in das Schattenreich aufmachen sollten. Doch sie konnte nicht in Alfheim zurückbleiben und bloß warten! Alsuna war überzeugt davon, dass sie alleine schneller und vor allen Dingen unbemerkt nach Schwarzalfheim gelangen wird. Es musste jetzt schnell gehandelt werden! Der dunkle Herrscher hatte sich bereits Teile der Lichtelfenlanden und noch etwas für sie viel Kostbareres genommen: ihre Schwester Liv. Alsuna war nicht auf Ehre und Ruhm aus, sondern auf die Rettung ihres Reiches und der Rettung Livs. Mirgos musste bezwungen werden. Auch wenn sie dafür in den tiefsten Berg und durch das schwärzeste Dunkel gehen musste!
Marlene betrachtete den feinen silbernen Reifen, der sich an die blasse Stirn der Lichtelfe schmiegte. Darauf schimmerte ein Ränkespiel von grazilen Blüten und Blättern. Doch noch mehr faszinierte sie der daran befestigte Edelstein, der zwischen ihren roten Augenbrauen in einem warmen Sonnengelb leuchtete. Marlene sah darin etwas pulsieren. Sie schüttelte heftig den Kopf. Jetzt ging wieder ihre Fantasie mit ihr durch. Egal, wer sie ansah oder reden hörte, hielt sie für eine Träumerin. Eine, die nicht so recht in die wirkliche Welt passte mit ihren bunten Röcken, deren Saum bis über die Spitze ihrer Schuhe ging und den Blumen- und Schmetterlingspangen im widerspenstigen braunen Haar.
Die Stimme Alsunas ließ sie erschrocken aufblicken. „Der Stein, den du gerade so anstarrst, hilft mir dabei…“ „…die Lichtmagie zu kanalisieren“, beendete Marlene Alsunas Satz. „Woher weißt du das?“, fragte Alsuna scharf. „I..ich habe es vor mir gesehen, so wie ich dich jetzt vor mir sehe. Vielleicht war das ja auch einfach nur eine Einbildung uu…nd geraten. Ich habe schon so viele Bücher über Fabel- und Fantasiewesen gelesen, da kann mir mein vollgestopfter Kopf schon mal einen Streich spielen“, sagte Marlene und lachte nervös.
In Alsunas moosgrünen Augen blitzte es auf. „Gib mir deinen rechten Zeigefinger“, flüsterte sie aufgeregt und griff danach, ohne Marlenes Reaktion abzuwarten. Mit angehaltenem Atem suchte Alsuna nach Mirgos‘ Zeichen: zwei sich am Fuße berührende Dreiecke, eines für den Stillen Berg und eines für den Heulenden Berg, unter denen er Hof hielt. Auf Marlenes Finger war nichts zu sehen. Nicht die feinste schwarze Linie. Alsuna stieß die Luft erleichtert wieder aus. Es waren also nicht die Seiten von Mirgos‘ verfluchtem Buch, über die Marlenes Finger gestrichen waren. Das Zeichen hätte sich sonst mit jedem Seitenumblättern tiefer in ihre Haut gegraben.
Die Lichtelfe schaute auf. Ihr Blick war für Marlene unergründlich: eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. „Was sollte denn auf meinem Finger zu sehen sein?“, hakte Marlene trotzdem noch einmal nach. Alsuna antwortete ihr nicht auf die Frage. Stattdessen schüttelte heftig den Kopf, als könne sie die dunklen Gedanken damit loswerden. Als das nicht wirklich half, drehte sie sich auf dem Absatz um und blickte in Richtung der Bergspitzen des Stillen und des Heulenden Berges. Diese erhoben sich wie die Zacken auf dem Rücken eines schlafenden Ungeheuers hinter einem grünen Meer aus Bäumen in den eisengrauen Himmel. Alsuna richtete sich gerade auf und sagte leise: „Wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns.“
Bevor sie die ersten Ausläufer der Berge erreichten, mussten sie es erst einmal durch den Myrkviðr, den Dunkelwald schaffen. Er war das Niemandsland zwischen Alfheim und Schwarzalfheim. Dort hinein, so sagte man, haben sich Wesen guter und böser Natur zurückgezogen, die keinem der Elfenherrscher ihre Treue schwören wollten. Keine der Lichtelfen, nicht einmal die Weiße Wache, wagte sich freiwillig in dieses Gebiet. Und wer sich dorthin aufmachte, kehrte nicht zurück und so blieb ihr Schicksal ein ewiges Geheimnis.
Alsuna schaute Marlene fest in die Augen. „Ich frage dich dies nun das einzige und letzte Mal: Wirst du mir helfen, die Welt der Elfen vor der Finsternis zu bewahren? Überlege es dir gut. Auf uns lauern unbekannte Wesen und Gefahren.“
Bevor Marlene den Mund öffnen konnte, erhoben sich bereits die Stimmen in ihrem Inneren: „Zögere nicht! Wir sind stets an deiner Seite! Du wirst Großes vollbringen. Ohne dich sind alle verloren!“
Marlene straffte die Schultern. Wie konnte sie als einzige Hoffnung auf Rettung kneifen? „Ich bin dabei!“, sagte sie mit einem kräftigen Nicken.

