Weihnachten im Borkenwald

Eine verschneit verschnupfte Begegnung

Es tappte leicht ans Fenster. „Ich bin nicht da! Es ist noch viel zu früh!“ Fröstelnd zog sich der Waldgnom Egbert die raue Flusendecke über den Kopf. Tapp.Tapp.Tapp. Unter der Decke knurrte es. Dann wurde sie mit einem Ruck zurückgeschlagen. Egberts Kopf erschien. Darauf thronte eine eichenstammbraune Haarpracht, die in alle Richtungen abstand. Er zog die dicke Knubbelnase hoch und drehte den Kopf missmutig hin zu dem lästigen Geräusch, das einfach nicht aufhören wollte, ihn zu ärgern! Erstaunt hob er die dichten Augenbrauen. Draußen tanzten weiße Flocken im Wind. So fröhlich und stürmisch, dass sie mit ihren zarten Zacken das dicke Glas seines Fensters streiften. Es schneite! Zum allerersten Mal in diesem Winter! Gerade noch rechtzeitig, kurz vor Weihnachten! Aus den buschigen Brauen wurde eine grimmige Linie, als er sie grantig zusammenzog.

Der Waldgnom stöhnte. „WEIHNACHTEN!“ Er spuckte das Wort fast schon aus. Viel zu viele Lichter, furchtbar fröhliche Gesichter bei Kerzenschein, Jammermusik und das schlimmste von allem: Geschenke! Jeder im Wald tuschelte hinter hervorgehaltener Hand und Pfote, was Familie und Freunden wohl am besten gefallen könnte. Der Gnom spitzte den breiten Mund und säuselte: „Ein selbstbemaltes Becherchen? Eine hübsche Spange im Kringelhaar? Eine neue Zipfelmütze?“ Ha! Das er nicht lachte! Egbert hielt inne. Oder doch weinte? Seine Mundwinkel bogen sich nach unten. Niemand würde ihm ein Geschenk machen. So wie jedes Jahr. Die Waldbewohner konnten ihn anscheinend nicht leiden. Also warum machte er sich darüber noch Gedanken – oder eine leise, wirklich ganz leise Hoffnung, dass es dieses Weihnachten anders sein würde?

Egbert grummelte schlecht gelaunt in seinen langen Zauselbart und schwang die kurzen Beine über die Bettkante. Die Socken von gestern lagen noch genau dort, wo er sie gestern Abend hat fallen lassen. Wenigstens eine gute Sache an diesem Morgen. Auf ihn selbst war eben Verlass. Er wackelte erst ein wenig mit den Zehen, und steckte dann den linken Fuß in den grauen, warmen Stoff. „Herrl…“, wollte er sagen, doch er stoppte. Eine Zehe wackelte immernoch – und zwar außerhalb der Socke! Sie hatte ein Loch! „Schneckenschleim und Käferspucke noch eins! Bin ich denn nicht schon genug mit dem Weihnachtskram geplagt?!“, schimpfte er. Doch es half nichts. Egbert musste aus den Federn kommen und sich anziehen. Sein kleiner Ofen klapperte schon ungeduldig mit dem Puffrohr. Er verlangte Feuerholz, um endlich ein bisschen Wärme in das Waldgnomhaus bringen zu können. „Schon gut, schon gut. Ich geh ja schon!“, sagte Egbert und setzte sich die kastanienbraune Mütze auf. Ihr Zipfel hing bis zu der Mitte seines breiten Rückes und endete mit einem Bündel aus gegeneinander klackernden Haselnüssen.

Als er die Tür mit einem leichten Knarren aufriss, wehte ihm der Wind eine Brise Schnee ins Gesicht. Der Waldgnom rieb sich mit seiner großen Hand über das faltige Gesicht. „Danke! Viiieelen Dank!“, schrie er dem Winterwind entgegen. „Ich habe es verstanden! Dir gefällt nicht, wie ich über Weihnachten denke! Trotzdem werde ich nicht anfangen, den Lichterglanzfirlefanz zu mögen!“ Unter seinen Schuhe knirschte der Schnee, als er mit großen Schritten zu seinem kleinen Schuppen stapfte. Egbert hatte schon in weiser Voraussicht im Herbst genügend Holz gesammelt, das darin nun schön geschützt lagerte. Der Gnom rüttelte an der Tür. Der Wind brauste um ihn herum und drückte sie zu. „Lass das!“, schrie Egbert ihm entgegen. Sofort ließ der Wind von der Tür ab. Der Gnom plumpste auf seinen Po, da er zur gleichen Zeit mit ganzer Kraft an der Klinke gezogen hatte. Er hob seine Faust in die Höhe und schimpfte wie ein Rohrspatz. Schnell rappelte sich der Waldgnom wieder auf und flüchtete sich ins Innere des Schuppens.

Hier war es ganz still. Egbert atmete erleichtert aus und machte sich daran, Holzscheite zusammenzusuchen. Hatschu! Der Gnom hielt in der Bewegung inne. Suchend blickte er sich um. Was war das für ein seltsames Geräusch gewesen? Er wartete kurz. Es ertönte nicht noch einmal. Der Waldgnom zuckte mit den Schultern. Während er das nächste Holzstück vom Stapel nahm, murmelte Egbert vor sich hin: „Das war bestimmt dieser grässliche Wind. Er kann es einfach nicht lassen!“ Hatschi! Da war es doch schon wieder! Der Gnom streckte den Rücken gerade und den Bauch raus. Mit seiner tiefsten Drohstimme donnerte er: „Wer ist da? Zeig dich oder ich werde so sauer wie eine noch nicht reife Himbeere!“

In der hintersten Ecke des Schuppens löste sich aus den Schatten ein kleines Wesen. Mit vorsichtigem Flügelflattern schwebte es zögernd auf ihn zu. Egbert ließ das Holz auf den Boden fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. Als die Gestalt von den durch das kleine Fenster hereinscheinenden Strahlen der aufgehenden Sonne erfasst wurde, erkannte Egbert genau, mit wem er es zu tun hatte: unter einer Mütze, an dessen kerzengerade nach oben ragendem Zipfel ein goldenes Glöcken fröhlich bimmelte, lugte blondes Kringelhaar hervor. Die Mütze war genauso rot wie das Kleid und der Mantel, in dem es steckte. Mit grünem, dunkelrotem und weißem Faden gestickt, waren darauf Tännchen und Zuckerstangen hübsch in Reihe angeordnet. An den Füßen trug es feste, braune Stiefelchen. Eine Weihnachtsfee?! Was machte eine Weihnachtsfee ausgerechnet in SEINEM Schuppen?

Hatschi! Hatschu! Hatschi! Die Fee musste so heftig niesen, dass sie einen kleinen Salto rückwärts machte. Bei jedem Nieser verstreute sie jede Menge Glitzerstaub. Als die Weihnachtsfee sich wieder gerade in der Luft halten konnte, schüttelte sie kurz den Lockenkopf. Sie schaute Egbert aus großen, eisblauen Augen hilfesuchend an. „Es tut mir schrecklich leid, wenn ich dich erschreckt haben sollte. Aber der Schnee hat mich überrascht, und ich wusste einfach nicht so schnell wohin mit mir!“ Hatschi! Die kleine Fee rieb mit ihrer behandschuhten Hand über die rote Stupsnase. „Als wir aus dem Weihnachtswald aufgebrochen waren hatte ich ihn noch nicht.“ Der Waldgnom verengte die Augen zu Schlitzen. „Wen hattest du noch nicht?“ Die kleine Weihnachtsfee legte den Kopf schief. „Na den Schnupfen natürlich! Dieses fürchterliche Niesen hat erst kurz vor dem Borkenwald angefangen.“ Sie schniefte. „Dabei sollte ich hier Weihnachtsglanz und Weihnachtsfreude verbreiten. Aber so…“, ihr roter Handschuhdaumen zeigte auf ihre Nase, „…wird das wohl nicht gehen.“

Egbert kratzte sich am zotteligen Bart. Er mochte zwar Weihnachten nicht besonders, doch die Betrübnis der kleinen Fee ging ihm schon etwas zu Herzen. Darum schlug er vor: „Nun komm erst einmal mit in mein Haus. Hier ist es viel zu kalt.“ Die kleine Fee strahlte: „Oh, danke!“ Während er sich nach dem auf dem Boden verteilten Holz bückte, fügte Egbert noch grummelnd hinzu: „Außerdem verstreust du viel zu viel von deinem Glitzer. Nicht, dass die Nachbarn noch denken, ich würde für Weihnachten schmücken!“ Die Fee schmunzelte. „Das geht natürlich gar nicht.“ Als sie ihm flatternd zu seinem Waldgnomhaus folgte plapperte sie fröhlich: „Ach übrigens, ich heiße Aurelia. Und wie heißt du?“ Der Gnom stöhnte. „Egbert. Ich heiße Egbert.“ Aurelia klatschte ihn die Handschuhe. „Ein schöner Name. Egbert, wir werden eine tolle Weihnachtszeit miteinander haben. Hatschi! Ich spüre so etwas.“ Der Waldgnom gab ein Brummen, tief aus seinem Bauch, von sich.

Holzfuchs im Glitzerpelz

Aurelia rutschte auf dem niedrigen Holzhocker unbehaglich hin und her. Sie ließ ihren Blick durch das karge Heim von Egbert streifen. Ein Bett, ein kleiner, runder Tisch, an dem sie saß, und ein schwarzer Ofen, in dem ein helles Feuer loderte. Das war nicht besonders gemütlich. Erst recht nicht für eine Weihnachtsfee. Keine Girlanden aus getrockneten Orangenscheiben und Zapfen, keine selbstgebastelten Sterne, kein grüner Kranz, auf dem rote Beeren glänzen. Die einzige Farbe in diesem Raum steckte in dickenbauchigen Einmachgläsern. Das Regal über dem Öflein bog sich schon unter ihrem Gewicht. Aurelia konnte darin Kirschen, Pilze und Gurken erkennen. Egbert deutete ihre neugierigen Blicke jedoch anders. Er sah sie von der Seite an und fragte mit hochgezogenen Brauen: „Hunger?“ Die Weihnachtsfee bemerkte, dass sie wirklich etwas vertragen konnte, deshalb antwortete sie ihm schnell: „Eine Tasse Tee und Kekse wären nett.“ Der Gnom schnaubte. „Kekse habe ich nicht. Tee ist aus. Wenn du aber mit Nüssen Vorlieb nehmen willst, würde ich sie dir geben.“ Aurelia presste die Lippen zusammen. Also keine Kekse. Aber sie hatte wirklich Hunger und wollte nicht unhöflich sein. Die Fee setzte ein nettes Lächeln auf und sagte süß: „Ja, bitte.“

Eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Allein das Knacken der Nüsse und das Lodern des Feuers durchbrach die Stille. Außer Weihnachten fiel Aurelia einfach kein Thema ein, über das sie mit dem Gnom sprechen könnte. Um nicht einfach nur vor sich hin zu starren, huschten ihre Augen nochmals über die wenigen Gegenstände im Raum. Da fiel ihr neben dem Bett ein kleines Regal auf. Sie hatte es beim ersten Mal nicht bemerkt, da man es weit in die Ecke geschoben hatte. Es war vollgestellt mit kleinen Dingen. Ihr Herz schlug höher. Ha! Hattes sie es doch gewusst! Egbert war doch nicht so ein Weihnachtsmuffel! Aurelia stellte den Teller mit Nüssen auf dem Tisch ab und flog auf das Regal zu. Egbert schaute überrascht auf. Er verschluckte sich fast, als er begriff, was die Fee vorhatte. „Nein! Das hat dich nicht zu interessieren! Nein! Lass das gefälligst stehen!“

Doch Aurelia hielt schon eine wunderschöne Holzfigur in ihrer Hand. Es war ein Fuchs. Die Ohren gespitzt, saß er aufrecht da. Den Schwanz um seine Pfoten gelegt. Viele kleine Kerben ließen seinen Pelz wie ein echtes, kuscheliges Fell aussehen. Ehrfürchtig flüsterte Aurelia: „Hast du das selbst geschnitzt? Egbert schob die Hände in die Hosentaschen und antwortete knapp mit: „Ja.“ Hatschi!Glitzer stob auf und fiel auf das rotbraune Holz nieder. Aurelias Augen wurden plötzlich groß. „Mir ist da gerade eine fantastische Idee gekommen, wie ich meine Aufgabe doch noch erfüllen kann! Und du wirst mir dabei helfen!“

Jede kleine Regung war aus seinem faltigen Gesicht wie weggewischt. Dann fing der Gnom lauthals an zu lachen. Er rieb sich die Tränen aus den Augenwinkeln und kicherte: „Wenn es sonst nichts ist.“ Nun war es die kleine Weihnachtsfee, die grimmig dreinschaute. „Ich meine das Ernst! Hör zu! Diese Figuren…“ Sie hielt sie ihm direkt vor seine Knubbelnase, „…sind Kunstwerke, die das Auge und das Herz erfreuen. Mit ein bisschen Feenglitzer werden sie richtig festlich. Wir verteilen sie an die Waldbewohner, die sie dann unter ihren Weihnachtsbaum stellen können. Mission Weihnachtsfreude erledigt!“ Aurelia nickte selbstzufrieden.

„Ohne mich!“ Egbert kehrte ihr den Rücken zu und ließ sich auf den Hocker vor dem Ofen plumpsen. Aurelia umklammerte den Holzfuchs fester und flog zu dem grummeligem Gnom. „Du willst doch nicht etwa eine arme, zarte, schnupfnasige Weihnachtsfee bei diesem Schneesturm alleine losziehen lassen?!“ Trotzig schob sie die Unterlippe vor. „Und ich werde fliegen! Ob mit oder ohne dich. Ich bin eine Weihnachtsfee und habe eine Aufgabe!“ Egbert sah sie schief von unten an. Er klappte den Mund auf. Klappte ihn wieder zu. Dann warf er die kurzen Arme in die Luft und blaffte: „Na schön! Aber schwing die Flügel! Ich will an Weihnachten wieder hier in meiner einsamen Hütte sein!“

Unterwegs im Borkenwald

„In dieser Tasche ist es dunkel und kratzig! Und es riecht… Hatschu! nach ranzigem Käse! „Hmmm.“ Egbert zog die Kapuze seines Reisemantels noch etwas tiefer ins Gesicht. Die übermütigen Schneeflocken trieben in seine Augen. Die Kälte rieb seine Wangen rot. Trotzdem schmunzelte der Gnom. „Das kommt bestimmt von einem Käsebrot, was ich auf meiner letzten Reise als Proviant mithatte. Vielleicht findest du ja noch ein paar Krumen zum Naschen.“ Er zog die Nase hoch. „Außerdem solltest du dich nicht beschweren! Da drinnen ist es, im Gegensatz zu hier draußen, warm und trocken.“ Aurelia brummelte. Der Gnom hatte ja recht… Das „Ich mag aber keinen Käse!“, hatte sie sich aber trotzdem nicht verkneifen können.

So stapften sie eine Weile durch das dichte Unterholz des Borkenwaldes. „Die ersten Häuser der Grünwichtel sind nicht mehr weit entfernt. Lästige, freche Dinger. Halten sich für besonders witzig, wenn sie sich im Grün der Bäume und Gräser verstecken, um einen dann zu erschrecken!“ „Aber…?“, wollte die kleine Weihnachtsfee aus ihrer Manteltasche heraus wissen. „Aber…“ Egbert zögerte. Dann gab er zu: „Aber sie kennen die besten Witze. Und haben mich vielleicht ein- oder zweimal zum Lachen gebracht.“ „Oh, dieses Lachen würde ich gerne einmal hören!“, forderte ihn Aurelia heraus. Egbert ignorierte diese Bitte gekonnt. Er hielt an und verkündete: „Wir sind da.“

Der Waldgnom ließ den Sack in dem die geschnitzten Figuren dumpf gegeneinander stießen, auf den Boden sinken. „Nun bist du an der Reihe, Weihnachtsfee.“ Aurelia kroch aus der Tasche. Sie musste ein paar Mal mit den Flügeln schlagen, um auch den letzten Knick herauszubekommen. Dann blickte die Fee über ihre Schulter und zählte: „Fünf Häuser.“ Egbert griff in den Sack und legte fünf Holzfiguren vor sie, in den Schnee. Aurelia musste nur an das Kribbeln ihrer Nase denken, schon kamen die ersten Nieser. Hatschi! Hatschu! Hatschi! Eine große Glitzerwolke bauschte sich auf und ließ Glitter auf das braune Holz rieseln. Aurelias Augen leuchteten vor Freude bei dem schönen Glitzern und Funkeln. „Das klappt ja prima!“, rief sie stolz aus. „Ich werde hier warten, während du eine Figur nach der anderen zu den Wichteln bringst. Leg sie einfach vor der Tür ab. Sie werden sie schon finden.“ Aurelia zog etwas enttäuscht die Stirn in Falten. „Du kommst nicht mit?“ „Nein!“, Egbert schüttelte entschieden den Kopf. Aurelia seufzte. „Nun gut.“

Wie es der Waldgnom vorgeschlagen hatte, flog sie zu den kleinen Hütten. Dicke Schneeflocken legten sich auf das sanfte Grün der Grasbüscheldächer und malten mit ihrem Weiß schöne Muster auf die kunstvoll aufeinandergestapelten Steine der Hüttenwände. Alles lag in einer friedlichen Ruhe. Bestimmt erzählten sich drinnen die Wichtel, eingekuschelt bei einer Kanne Himbeerpunsch, besinnliche Weihnachtsgeschichten. Hatte sie da eben die ersten Töne von „O Tannenbaum“ gehört? Hach, die hatten es gut. Aurelia legte die Figuren sorgsam vor den Türen ab und bewunderte die daran aufgehängten, wunderschönen Weihnachtskränze. Als alles verteilt war, flog sie von Tür zu Tür und klopfte ein paarmal kräftig mit ihrer kleinen Faust gegen das dicke Holz.

„Komm zurück, kleine Fee! Sie sollen uns nicht sehen!“, rief Egbert ihr aufgeregt zu. Aurelia zögerte. Zu gerne hätte sie mit den Grünwichteln geplaudert. Doch sie wollte Egberts Geduld nicht weiter auf die Probe stellen. Sie zuckte mit den schmalen Schultern und flog schnell zu ihm ins Unterholz. Die ersten Türen gingen knarzend auf. Aurelia schlug das Herz bis zum Hals. Da packte sie eine grobe Hand und steckte sie zurück in die kratzige Tasche. „Aber…ich wollte doch wenigstens sehen, wie sie unser Geschenk entdecken!“, empörte sich die Weihnachtsfee. „Nicht wichtig. Sie haben es bekommen. Stellen es entweder auf den Weihnachtstisch oder werfen es ins Kaminfeuer. Wir haben noch mehr Häuser vor uns und müssen weiter.“

Aurelia presste nachdenklich die Lippen aufeinander, während das Ruckeln und Schaukeln von Egberts Schritten wieder einsetzte. Etwas kleinlaut fragte sie: „Willst du denn gar nicht wissen, ob sie sich über die Figuren freuen?“ Egbert antwortete nicht sofort. Er atmete tief ein und sagte dann: „Nein!“ Dabei wollte er es insgeheim doch wissen… Der Waldgnom hatte beim Schnitzen jeder Figur seine ganze Liebe hineingegeben. In jeder steckte ein Stück seiner Herzenswärme. Er hoffte, dass diese fünf Figuren bei den Wichteln ein gutes Zuhause gefunden hatten…

 

Das ungleiche Weihnachtswunderpaar ließ keine Türe im Borkenwald aus. Zu jedem Bewohner wusste Egbert etwas zu erzählen:

Die Wurzelmännchen haben allesamt lange, dichte Wurzelbärte – egal ob Tante, Opa oder kleine Schwester. Die Bärte sind so lang, dass ich mich leicht darin verheddere oder gar darüber stolpere. „Aber…?“, fragte die kleine Waldfee wieder.

Aber… sie finden unter der Erde die leckersten Knollen und teilen sie gerne.“

Flirrlichter machen sich einen Spaß daraus, jemandem vom Wege abzubringen. Ich kann gar nicht sagen, wie oft sie mich schon im Kreise haben laufen lassen“

Aber…?“

Aber… des nachts veranstalten sie ein Lichterspiel in den schönsten und leuchtendsten Farben.“

Moospuschel kleben im gesamten Wald auf dem Boden, an Stämmen und auf Steinen. Am liebsten in großen Gruppen. Sie haben Äuglein, nicht mal so groß wie ein Stecknadelkopf. Dafür ist der Schrei aus ihren Mündern umso lauter, wenn man mal aus Versehen auf sie tritt. Meine Ohren klingeln jetzt noch von dem letzten Quieckalarm.“

Aber…?“

Aber… sie lieben es, zu kuscheln. Die Moospuschel haben mir schon so manches Mittagsschläfchen im Wald besonders gemütlich gemacht.“

 

Als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die Schneedecke in einem warmen Orange glitzern ließen, zog Egbert die Türe zu seinem Haus auf. Aurelia flog sofort zu dem kleinen Öflein, das mit seiner Wärme den ganzen Tag auf sie gewartet hatte. Egbert hängte ordentlich seinen Reisemantel auf und gesellte sich zur kleinen Weihnachtsfee, die immernoch leicht fröstelnd ihre Händchen aneinanderrieb. Er brummte: „Leg dich in mein Bett und schlafe. Du brauchst deine ganze Kraft für die morgige Heimreise.“ Überrascht und etwas erschrocken sah sie ihn an: „Aber morgen ist doch Weihnachten!“ Der Waldgnom nickte. „Eben. Du solltest bei denen sein, die dir etwas bedeuten!“ Aurelia schob die Unterlippe vor. „Aber…“ „Kein „ABER“. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“ Die Fee ließ die Flügel hängen und tappste zum Bett. Als sie die Decke bis zur Nase zog fragte sie mitfühlend: „Bist du denn nicht müde?“ Egbert nahm sich ein Stück Holz und sein Schnitzmesser. Er zog den Hocker zu sich heran und antwortete ihr: „Nein. Ich werde noch etwas schnitzen.“ Etwas leiser fügte er an: „Vielleicht mache ich das ja doch nicht nur für mich. Vielleicht gefallen sie ja doch jemandem.“ In Aurelias Augenwinkel bildeten sich Tränen. Als sie die Augen schloss, rannen sie ihre Wange hinab.

Die Weihnachtsfreude klopft an

Tapp. Tapp. Tapp. Egbert schreckte von seinem Hocker auf. Er musste wohl doch eingeschlafen sein. Das erste Grau des Morgens drang durch die milchigen Fensterscheiben. Egbert rieb sich die Augen. Dann kam ihm plötzlich ein merkwürdiger Gedanke: Hatte er etwa alles nur geträumt? War das wieder der Schnee, der ihn einfach nur aus dem Bett holen wollte? Doch dann erklang aus der Richtung desselbigen ein zartes Stimmchen: „Was ist das für ein Geräusch?“ „Doch kein Traum“, murmelte Egbert. Es klopfte noch einmal. Allerdings nicht am Fenster, sondern an der Tür. Der Waldgnom erhob sich grummelnd und sagte zu der verdutzt dreinschauenden Aurelia: „Ich mach schon auf. Sonst kehrt wohl nicht so schnell wieder meine wohl verdiente Ruhe ein.“ Egbert zog kräftig an der Türklinke. „Wer stör…“ Weiter kam er nicht. Denn das Erstaunen über den oder besser gesagt die Besucher, raubte ihm die Sprache.

Vor seiner Türe standen die Bewohner des Waldes! Jeder hatte ein weihnachtlich verschürtes Päckchen bei sich. Jemand räusperte sich. Egbert blickte nach unten. Direkt vor ihm stand Opa Wurzelbart. Mit seiner knarzigen Stimme verkündete er: „Ich glaube ich spreche im Namen aller hier, wenn ich sage, dass uns deine gebrachten Holzfiguren außerordentlich gefallen haben! Wir möchten uns daher für dieses schöne Geschenk bedanken.“ Mama Wiesenwichtel drängelte sich mit einem breiten Lächeln auf den Lippen nach vorne. „Das war wirklich nett von dir Egbert. Wir möchten dir auch eine Weihnachtsfreude bereiten und haben daher alle etwas für dich mitgebracht.“ Mit rot glühenden Wangen überreichte sie ihm einen Korb mit leckerer Erdbeermarmelade, Keksen und einem Fläschchen Apfelpunsch.“ Mit zusammengeniffenen Lippen schaute der Waldgnom die unerwarteten Besucher an. Einen Wimpernschlag. Zwei Wimpernschläge lang. Dann holte er tief ergriffen Luft und sagte: „Ich danke Euch! Aber ich muss zugeben, dass ich das nicht ganz alleine war.“ Er trat zur Seite und machte eine einladenen Armbewegung. „Kommt doch herein und lernt die kleine Weihnachtsfee kennen. Ohne sie, hätte ich diese grandiose Idee wohl nicht gehabt.“

 

Glücklich flatterte Aurelia zwischen den Waldbewohnern umher und verteilte Punsch. Es war Weihnachten und alle feierten es mit fröhlichen Liedern und gutem Essen …bei Egbert, dem einsamen Waldgnom. Als Aurelia bei ihrem Freund vorbeikam, der geschäftig neues Holz in das kleine Öflein steckte, damit es alle schön warm hatten, sagte er aufgeregt: „Ich werde wohl nicht nur neue Figuren, sondern auch ein paar mehr Stühle und Hocker schnitzen müssen.“ Er erhob sich und zeigte zu Opa Wurzelbart, der gerade den kleinen Flirrlichtern, Wurzelkindern und Moospuschelchen eine Geschichte erzählte. „Der alte Wurzler hat versprochen, dass er mir ein paar besonders schöne Holzstücke bringt. Außerdem wollte mir Tante Grünwichtel das Rezept von ihrem leckeren Pilzeintopf verraten und die keinen Wichtel haben mich gefragt, ob ich mit ihnen im Sommer das Schwimmen beibringen kann.“ Aurelia drückte Egbert mit einem breiten Grinsen eine Tasse Punsch in die Hand. „Was?“, fragte er, als ob er nicht genau wüsste, was sie gleich sagen wollte. Aurelia sprach es trotzdem laut aus: „Du bist glücklich. Das Zusammensein mit den anderen Waldbewohnern lässt dein einsames Gnomherz höher schlagen.“ Egbert schnaubte. Dann gab er grinsend zu: „Mag schon sein.“ Er schaute sie mit schräg gelegtem Kopf an. „Bist du denn auch glücklich? Schließlich ist deine Mission erfüllt: Du hast den Waldbewohnern Weihnachtsfreude gebracht.“ Aurelia hielt seinen Blick fest. Dann sagte sie ernst: „Das stimmt schon. Aber ich muss dir etwas gestehen…“ Egbert zog die Brauen zusammen. „Was ist es, kleine Fee? Rück schon raus mit der Sprache!“ Der Waldgnom hielt ihr seine Hand entgegen, damit sie sich darauf niederlassen konnte. Aurelia setzte sich und zog die Knie fest an die Brust. Kleinlaut gestand sie: „Ich habe dich ein bisschen angeflunkert.“

Sie seufzte. Dann sprudelte es aus ihr heraus:

„Ich habe nicht zufällig in deinem Schuppen Schutz gesucht. Es war nicht meine Aufgabe den Waldbewohnern ein schönes Weihnachtsfest zu bescheren, sondern DIR.“ Sie schaute zu Egbert auf. Der regte sich nicht und sagte auch nichts, also fuhr sie schnell fort. „Die Waldbewohner sind sehr gut darin, das weihnachtliche Gefühl in ihre Herzen und Häuser zu bringen. Du jedoch wolltest nichts von Weihnachten wissen. Als ich in deiner kahlen Hütte die Figuren entdeckt habe, ist mir der Einfall gekommen, dass du vielleicht daran Freude gewinnen könntest, sie zu verschenken. Doch du wolltest ja nicht einmal abwarten, bis die Waldbewohner dein Geschenk entdeckt haben. Hast nicht einmal gelächelt.“ Aurelia rieb sich über die Arme. „Ich hatte schon geglaubt, alles sei verloren.“ Die Weihnachtsfee blickte in den Raum hinein, in dem gelacht, gesungen und gefeiert wurde. Ein Funkeln erschien in ihren Augen. „Zum Glück sind mir die Waldbewohner zur Hilfe gekommen. Sie haben mit ihrer Dankbarkeit für deine wundervollen Figuren die Weihnachtsfreude zu DIR gebracht.“ Aurelia stand auf, flog ganz nah an Egbert heran und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. „Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich bin auch sehr glücklich.“

Verlegen rieb sich der Waldgnom über die immernoch prickelnde Stelle. Mit einer Stimme so warm wie eine Wolldecke fragte er: „Du bleibst doch noch die Weihnachtstage?“ Egbert rieb sich über den Nacken. „Selbstverständlich nur, wenn du keine anderen Aufträge hast.“ Aurelia zwinkerte ihm zu. „Das würde mich sehr freuen. Vielleicht schaue ich ja auch noch ein paar Mal nach Weihnachten vorbei – schließlich möchte ich die spannenden Geschichten von Opa Wurzelbart nicht verpassen.“

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