Hexe Medwina und die Pechsocke

Mit einem lauten Knall donnerte die Tür der Hütte Zipfelschreck an die steinerne Wand. Die kleine Hexe stürmte herein, stieß sich in ihrer Hast den Kopf an einem von der Decke hängenden Topf und ließ sich missmutig in ihren Sessel fallen.

Medwina ertastete vorsichtig die entstanden Beule in ihrem braunen Strubbelhaar. „Fliegendreck und Käferspucke! Was ist das nur für ein Morgen?!“, schimpfte die kleine Hexe laut. „Na, was höre ich da für ungehobelte Worte?“ Eine Eule in weißem Federkleid ließ sich nach einigen kräftigen Flügelschlägen neben Medwina nieder. „Ach Elise, ich kann nicht anders, sonst platze ich noch! Es ist einfach nicht mein Tag. Alles hat schon vor dem Frühstück angefangen…“

Die kleine Hexe erzählte ihrer Freundin, dass der Schneckenschleim für ihr Müsli alle gewesen war. Nicht weiter schlimm, schließlich konnte man sich ja neuen besorgen. Draußen hatte es in Strömen geregnet – eigentlich das perfekte Wetter für die Schneckensuche. Doch dann hatten die dicken Tropfen ihren Hut so schwer gemacht, dass er ihr andauernd ins Gesicht gerutscht war, und Medwina nichts mehr sehen konnte – weder Schnecken noch den Weg. Die Hexe war mit ihren Füßen im Matsch stecken geblieben und auf die Nase gefallen. Die Schuhe hatte der braune Schlamm verschluckt uns so musste sie dreckig, nass und mit tratschigen Socken nach Hause laufen – ohne Schneckenschleim.

Sie kniff ein Auge zu und betrachtete die noch tropfenden Matschesocken. „Natürlich! Ich bin mit der falschen Socke aufgestanden!“ Schnell sprang sie aus dem Sessel. „Jetzt werde ich die ganze Woche Pech haben und am Samstag kommt auch noch Tante Petunia, um mich in der Hexenkunst zu prüfen! Wenn ich nicht bestehe, darf ich 170 Jahre nicht mehr hexen! Wie soll ich das schaffen, wenn das Unglück wie Pech an mir klebt?!“ Medwina lief aufgeregt im Kreis und raufte sich die Haare.

Elise stellte nach Eulenart ihren Kopf etwas schief. Medwina kannte diesen Blick sehr gut. „Rück schon raus mit der Sprache!“ Elise ließ sich das nicht zweimal sagen: „Liegt die Angst vor dem Nichtbestehen wirklich an einer Socke, oder hat da jemand nicht oft genug seine Nase in das große Zauberbuch gesteckt? Ich habe da eine gewisse Hexe auf ihrem Besen Fledermäusen nachjagen und Verstecken mit Hasen spielen sehen….“ Medwina schnalzte abfällig mit der Zunge. „Was soll ich zwischen den verstaubten Seiten schon finden? Alle wirklich wichtigen Sprüche habe ich doch im Kopf. Pass auf:

Veilchenduft und Feuerglut,

Elise trägt jetzt einen schicken Hut!

Mit einem Zischen kam die Bratpfanne aus der Küche und landete auf dem Eulenkopf. Medwina war zunächst erschrocken, dann ein klein wenig enttäuscht, bis sie schließlich laut lachen musste. Elise sah einfach zu komisch aus. Die Eule aber, schaute sie missmutig an. „Du nimmst das Hexen einfach nicht ernst genug. Keine Hexe kann von Anfang an perfekt hexen. Dazu braucht es viel Übung und Willenskraft.“

Medwina schmollte: „Gestern noch, hat dem Frosch sein von mir herbeigezauberter Seerosenhut sehr gut gefallen. Die Pechsocke ist an allem Schuld und nicht ich!“ Sie zog beide Kringelsocken aus und warf das Matscheknäuel in den Ofen. Dann lief die kleine Hexe wütend zur Tür hinaus.

Und… trat mit nacktem Fuß in eine Pfütze. „Arrrgh! Und du willst mir nicht glauben!“, rief sie gegen ihr Hexenhaus. Aber das Jammern nützte nichts. Sie brauchte erst einmal trockene Füße!

Grauer Esel, bunte Kuh,

für jedes Füßlein Socke und Schuh!

Medwina schaute etwas unsicher nach unten. Puh. Wenigstes das hatte funktioniert. Sie schlug die Hacken ihrer neuen schwarzen Stiefel zusammen und steuerte auf den Wald zu.

Die kleine Hexe wusste noch nicht, wohin sie wollte. Das Grün der Bäume flog nur so an ihr vorbei. Gedanken schossen währenddessen wie Blitze durch ihren Kopf: Ich hätte doch mal in das Buch schauen sollen. Vielleicht hätte darin ja gestanden, wie ich diese blöde Pechsträhne wieder los werde….

Plötzlich trat ihr Fuß nicht auf das weiche Gras, sondern stieß an einen harten Stein. „Aua, au, au. Was war das bloß?“, jaulte sie und hüpfte auf einem Bein.

„Oh, tut mir schrecklich leid. Das Buch war gerade so spannend. Ich habe meine Füße und Beine zu Stein werden lassen, damit man mich nicht so leicht bemerkt und ich ungestört lesen kann“, sagte das Waldmännlein Talino. „Na das hat ja prima geklappt“, maulte Medwina. In dem schattigen Versteck raschelte es. „Warte, das haben wir gleich…“ Talino klingelte mit einem kleinen Tannenzweiglein und zwei kurze, kräftige Beine steckten wieder in einer braunen Hose. „Mit welchem Sausewind habe ich denn das Vergnügen?“ Schlaue, grüne Äuglein blickten die Hexe unter einem spitzen Blätterhut an.

„Ich heiße Hexe Medwina. Aber nun könnte man mich auch Pechhexe nennen. Heute Morgen bin ich mit der falschen Socke aufgestanden und jetzt verfolgt mich das Unglück.“ Talino kratzte sich am Kopf. Dann lächelte er. „So ganz kann das aber nicht stimmen. Schließlich hast du mich getroffen. Wie kann ich dir helfen?“ Die kleine Hexe blies sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht. „Schon in sechs Tagen kommt meine Tante Petunia und wird mich in der Hexenkunst prüfen. Bis dahin muss ich nicht nur dieses Pechproblem lösen, sondern auch jede Menge Zaubersprüche in meinen Kopf bekommen. Der brummt jetzt schon vor lauter Ärger.“

Da war sie bei dem Waldmännlein genau richtig: „Oh, in so ein Hexenbuch würde ich gerne mal einen Blick hineinwerfen. Die Zauberbücher der Waldmännlein habe ich alle schon mindestens dreimal gelesen. Irgendwann werde ich ein ganz großer Zauberer… Aber bis dahin, üben wir deinen Hokuspokus. Über Glück oder Unglück können wir nicht bestimmen, aber üben schon.“

Talino staunte über so ein herrlich schiefes Hexenhäuslein nicht schlecht. „Lass uns lieber draußen zaubern, damit nicht allzuviel zu Bruch geht“, sagte Medwina nicht gerade motiviert. Talino nickte und setzte sich auf die mit strahlend weißen Margeriten umsäumte Bank vor dem Küchenfenster. Nach einer Weile kam die Hexe, schwer ächzend unter der Last des dicken Buches, in den Garten.

Elise hatte sich währenddessen mit dem Waldmännlein angefreundet. Medwina schaute etwas grimmig, als sie die Beiden so einträchtig beisammen sah. „Ihr habt euch also schon zusammengetan.“ Elise blickte sie freundlich an: „Natürlich. Aber für dich und nicht gegen dich.“ Talino nickte zustimmend. „Beginnen wir also mit etwas Einfachem. Es ist sehr warm heute… Ein leichtes Lüftchen zur Abkühlung wäre doch nicht schlecht.“

Die kleine Hexe schüttelte leicht den Kopf, denn so ein Wetterzauber war nicht gerade leicht. Elise wusste sofort: „Schlag doch mal bitte Seite 5291 auf.“ Und wirklich – neben einer dunklen Wolke, die ihre dicken Backen aufblies, stand in großen, geschwungenen Buchstaben: Windzauber. Medwinas Augen huschten schnell über die magischen Worte. Sie atmete einmal tief ein und richtete ihren Blick auf den strahlend blauen Himmel:

Wolkenbruch und Menschenkind,

komm herbei, du tüchtger Wind!

Schon nach kurzer Zeit, begannen sich die Äste der Bäume leicht zu wiegen. Der Wind brachte ein paar weiße Federn mit sich. Aber was machte das schon? Dann wurden es jedoch immer mehr und man konnte vor lauter weißem Flausch nicht mehr die eigene Hand vor Augen sehen! Schnell rief Talino: „Wind steh!“, und machte damit dem Spektakel ein Ende.

„Ich habe den Spruch so aufgesagt, wie er im dummen Buch steht! Entengrütze! Es ist die Pechsocke!“, schimpfte Medwina. Talino konnte das nicht glauben. Mit ein paar schnellen Schritten war er hinter der kleinen Hexe und schaute mit wichtigem Blick selbst in das Buch. „Du hast ja auch nicht bis zum Ende gelesen. Zu diesem Zauberspruch gehört noch eine drehende Handbewegung! Schau her….“

Abends lag Medwina grübelnd im Bett. Sie hatten bis Sonnenuntergang gehext, was das Zeug hielt: eine Geburtstagstorte mit dickem Zuckerguss, der Medwina versehentlich eine Schlammpackung verpasst hatte, einen Hund, der einem wie ein Papagei alles nachplapperte, Regenbögen in 37 verschiedenen Farben, die plötzlich angefangen hatten, wild zu blinken und noch vieles mehr. Wirklich verbessert hatten sich ihre Künste nicht. Es musste etwas passieren!

Die kleine Hexe durchsuchte im Kerzenschein das ganze Zauberbuch nach einem Pechsockenumkehrspruch und fand natürlich nichts. Da fiel ihr etwas ein: „Vielleicht muss ich alles einfach noch einmal genauso machen – bloß rückwärts. Ja, genauso. Talino nehme ich mit, damit nicht noch ein Unglück passiert.“ Zufrieden mit ihrem Plan, schlief die kleine Hexe ein.

Sie erwachte am nächsten Morgen mit dem ersten Gesang des Gartenrotschwanzes. „Sehr gut. Diesmal nicht bis zum Mittag schlafen, sondern gleich frisch in den Tag starten! Das fängt ja schon mal gut an“, freute sie sich. Vergnügt begann die kleine Hexe, ein Wanderlied zu pfeifen. Davon wurde Talino geweckt, der es sich im Katzenkörbchen gemütlich gemacht hatte. „Uahhh. Guten Morgen, kleine Hexe. So früh schon so gute Laune?“ Medwina fuhr etwas erschrocken mit dem Kopf herum. „Oh, Talino. Gut, dass du wach bist. Wir haben heute eine Menge vor. Mir ist beim Einschlafen die Lösung für mein Problemchen eingefallen. Achtung: Ich mache einfach alles so wie gestern, bloß rückwärts!“ Talino schüttelte nur seinen Kopf.

Schon legte sie los: Statt mit dem linken, stand sie nun mit dem rechten Bein auf, zog sich mit voller Konzentration erst die rechte und dann die linke Socke an. Anschließend streckte sie die Arme nach unten. Anstatt zu gähnen, pustete sie die Luft kräftig aus ihrem Mund heraus. Medwina drehte sich vorsichtig um, hopste zu ihrem Küchenschrank und schlug die Schranktür einmal zu. Als sie sich ihr Hexenkleid verkehrt herum anzog, musste das Waldmännlein doch etwas sagen: „Da mache ich nicht mit. Das ist zu verrückt.“ „Es ist aber meine einzige Chance. Hab dich nicht so. Du wolltest mir doch helfen. Los jetzt. Der Sumpf wartet!“

Widerwillig trottete Talino der rückwärts laufenden, mit ihrem Hut wedelnden Hexe hinterher. Nun schimpfte sie nicht mehr über den Regen, sondern schaute in den herrlich blauen Himmel. „Vorsicht, hinter dir ist eine dicke Wurzel!“, konnte Talino gerade noch rufen, bevor Medwina beinahe gestolpert und auf ihrem Po gelandet wäre.

Talino fragte sich noch einmal, was er hier eigentlich machte. Da nahmen seine empfindlichen Waldmännleinohren ein leises Jammern wahr. Ohne ein Wort zu sagen, bog er in das dichte Unterholz ab. Nur einige Augenblicke später, stand er auf einer kleinen Lichtung.

Er tauchte in das helle Sonnenlicht ein und brauchte erst einmal ein bisschen, bis er das Häufchen Elend fand. Gut versteckt, zwischen den hohen Grashalmen, lag da ein Rehkitz, aus dessen Augen dicke Tränen kullerten. Talino ließ sein Tannenzweiglein erklingen, damit er das arme Tier verstehen konnte. Das Kitz schniefte: „Bitte hilf mir. Mein Bein tut so weh.“ „Natürlich werde ich dir helfen. Wir schauen es uns an, ja?“, sagte das Waldmännlein einfühlsam.

„Es ist nicht gebrochen. Nur verstaucht“, murmelte Talino vor sich hin. „Und was machen wir jetzt?“, wollte die kleine Hexe wissen. Sie hatte es auf dem Waldweg nicht mehr länger ausgehalten und war ihrem Freund gefolgt. Talino war nicht sehr überrascht. „Die Frage ist, wie wir die Schwellung so schnell wie möglich wieder wegbekommen, damit das Reh wenigstens etwas auftreten kann. Heilzauber übersteigen jedoch meine Macht.“

Medwina wusste, dass im großen Hexenbuch Zaubersprüche für die Heilung von Tieren standen. „Ich habe den Heilspruch schon einmal im Zauberbuch gelesen. Das ist aber schon etwas länger her. Wie ging der nur? Ich laufe schnell nach Hause, hole das Zauberbuch und bin sofort wieder da.“ In ihrer Stimme klang nicht das kleinste Zögern oder Zweifeln mit. Dem Rehkitz musste geholfen werden.

Die Pechsocke und ihr Vorhaben, alles rückwärts zu machen, hatte sie vollkommen vergessen. Sie nahm die Abkürzung durch das Tannenwäldchen und war im Nu bei ihrer Hütte Zipfelschreck angekommen. Schnell holte Medwina das Zauberbuch unter ihrem Kissen hervor. „Elise, du kennst das Buch in- und auswendig – auf welcher Seite finde ich den Heilzauber für die Tiere?!“, rief sie ganz aus der Puste. „Seite 256. Warum?“, wollte die verdutzte Eule wissen. „Danke! Hab keine Zeit für eine Erklärung. Ist ein Notfall. Bis später“, schnaufte sie und war schon wieder unterwegs.

Auf der Lichtung schlug sie das Buch an der besagten Stelle auf. „Ah, da ist er ja.“ Medwina holte tief Luft und…. stellte fest, dass mitten auf der Seite ein dicker Marmeladenfleck war. „Oh je, man kann nicht den ganzen Spruch lesen!“, sagte sie verzweifelt. Das Kitz ließ seinen Kopf hängen. Talino schob sich seine Zipfelmütze in den Nacken. Dann schaute er sie mit ganz ernstem Blick an: „Der Spruch ist noch in deinem Kopf. Du kannst es“, sprach er der kleinen Hexe Mut zu.

Medwina schaute sich noch einmal den Anfang des Zauberspruchs an:

Kirschblüte und Mandelkern,

Hexen haben alle Tiere gern.

Drum sei dir …..

Die kleine Hexe schloss die Augen und wiederholte den Spruch leise murmelnd immer wieder. Da wurde ihr ganz warm ums Herz. Das Dunkel um sie herum explodierte in die tollsten Farben. Medwinas Arme kribbelten. Das Kribbeln ging in ihre Hände über und dann bewegte sich der Zauberstab von ganz alleine. Auch die fehlenden Worte sprudelten aus ihrem Mund:

Drum sei dir auch nicht bange,

das Heilen dauert nicht lange.

Aus dem Zauberstab kamen goldene Fäden, die sich um das verletzte Bein des Rehs legten. Sie leuchteten kurz auf und waren wieder verschwunden. Das Bein war geheilt.

Auch Talinos und Medwinas Gesichter strahlten. Zuerst fand das Waldmännlein seine Sprache wieder. „Kleines Reh, versuch, aufzustehen.“ Es blinzelte noch etwas unsicher. Dann stellte es vorsichtig die Vorderbeine auf, stützte sich darauf, bevor es sein Gewicht auf alle vier Hufe verteilte. „Es tut gar nicht mehr weh!“, jauchzte das Kitz und begann, sofort zu springen.

Die fröhlichen Laute ihres Kindes, hörte die Rehmama. Das übermütige Kitz war ihr nach dem Morgenspaziergang davongelaufen und sie hatte sich schreckliche Sorgen gemacht. Nun lief sie ihrem Rehlein schnell entgegen. Mutter und Kind waren wieder vereint. Das Kitz lehnte seinen Kopf an den weichen Hals seiner Mutter und versprach, nie wieder ungehorsam zu sein.

Über Medwinas linke Wange rann eine dicke Träne. Talino drückte ihre Hand. „Siehst du, wenn du mit dem Herzen dabei bist, klappt alles, was du dir vornimmst.“ Medwina schniefte. „Und keine Pechsocke der Welt wird mich dabei aufhalten“, hatte die kleine Hexe begriffen. „Komm, lass uns nach Hause gehen. Ich habe für Samstag noch einiges zu lernen…“

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