Kapitel 1
Leni atmete tief ein. Heute morgen hatte es auf dem Weg zum Bus geregnet. Ein frischer Wind blies ihr eine braune Strähne aus dem Gesicht und den Geruch von nassem Laub und aufgewühlter Erde entgegen. Unter ihren Händen spürte sie die feinen Rillen von rauem Holz. Das Stimmengewirr in der Ferne wurde leiser, bis es verklang und nur noch das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter zu hören waren. Leni atmete aus und öffnete die Augen. Sie war hoch über dem Boden, umgeben von Baumwipfeln und den wundersam geformten Wolken am Himmel ein ganzes Stück näher. Lenis Mundwinkel zuckten und schoben sich dann zu einem glücklichen Lächeln nach oben.
Genauso hatte sie sich das Gefühl von Freiheit vorgestellt, als sie aus ihrem kleinen Kinderzimmer hinaus, auf die immer selbe Straße, an der die immer gleichen drei kleinen Tannen standen, in der Kleinstadt in der nie etwas wirklich Aufregendes geschah, geschaut hatte. Es war das Gefühl, über den Dingen zu schweben, mit einem ungehinderten Blick auf wartende Abenteuer. Man müsste sich nur eines auswählen. Dieser Ausflug würde großartig werden! Auch wenn es nur ein Wandertag auf dem Baumkronenpfad der Klasse 4b der Grundschule Moselbach war.
Leni löste ihre Hände von dem hölzernen Geländer und machte ihren ersten Schritt auf einem Pfad in über vierzig Metern Höhe. Und dann noch einen. Und noch einen. Sie fing an zu rennen. Ihre Füße flogen nur so über den wackeligen Holzsteg. Der Wind zog mit luftigen Fingerspitzen an ihrer Kleidung. Sein Brausen brachte Lenis Locken noch etwas mehr durcheinander und forderte sie zu einem wilden Tanz auf. Leni jauchzte. Sie achtete weder auf die Rufe von Frau Rosenblatt, die sie ermahnte, doch langsamer zu machen noch auf das Schnaufen der Jungs, die sie vergeblich versuchten einzuholen. Nichts und niemand würde sie jetzt anhalten lassen!
*KNACK**KRICKS*
Bis auf einen nassen Haufen aus Moos und Blättern, der mit einem lauten Knacken aus dem Blattwerk einer hohen Buche ihr vor die Turnschuhe fiel.
Gewiss war dies nur ein alter Ast, der unter der Last der Jahre gebrochen war. Leni wollte einfach darüber hinweg steigen, doch das Erklingen einer feinen Stimme ließ sie mitten in der Bewegung innehalten und den Fuß wie in Zeitlupe zurücksetzen. „Au! Borkenpilz und Entengrütze! Warum muss das immer mir passieren?!“ Leni legte den Kopf schief. War die Stimme etwa aus dem Haufen gekommen? Neugierig beugte sie sich darüber. An einer Stelle hoben und senkten sich die Blätter. Etwas musste sich darunter verstecken! Leni rieb sich unsicher über die Nasenspitze. Vielleicht könnte sie ja kurz einen vorsichtigen Blick wagen. Leni streckte die Hand aus… und zuckte sofort wieder zurück, als aus dem Haufen mit einem *WUSCH* grüne Ärmchen herausstachen und ebenso grüne Beinchen umschlangen.
Ein Augenpaar, so glänzend und schillernd wie Libellenflügel, blickte sie erschrocken unter einem dichten Haarschopf aus Moos und Flechten an. Blitzschnell zog das seltsame Wesen seinen grauen Knittermantel über sich und war darunter verschwunden. So richtig verschwunden! Hätte Leni es nicht besser gewusst, hätte sie angenommen auf ihrem Pfad läge bloß ein mit Moos überwachsener Stein. Sie beschloss, nicht einfach so weiterzugehen. Leni war noch nie vor etwas weggelaufen und würde gewiss jetzt nicht damit anfangen.
„Du weißt, dass ich hier bin, oder?“, kam es dumpf unter dem Steinmantel hervor. „Ja“, antwortete Leni ehrlich. „Und du willst das bestimmt auch nicht schnell wieder vergessen, oder?“ Leni kniete sich vor den Moosstein hin. „Nein.“ Sie rutschte noch ein Stückchen näher heran. „Du bist verletzt… oder hast dir zumindest wehgetan. Ich lasse dich hier bestimmt nicht alleine. Gleich trampeln hier Jannik und seine tollpatschigen Freunde herum. Du kannst weder zurück auf den Baum, noch schnell auf den Waldboden klettern.“ Das Wesen zog seinen Mantel vom Kopf. „Mein Bein tut nur ein kleines bisschen weh. Gibt bestimmt einen grünen Fleck“, erklärte das Moosmädchen zaghaft. In seinen glänzenden Augen konnte Leni Furcht, aber auch ein bisschen Misstrauen erkennen. „Warum willst du mir helfen?“, wollte es vorsichtig wissen. Leni zuckte lässig mit den Schultern. „Weil ich eben nett bin. Und weil unsere Lehrerin, Frau Rosenblatt, uns beigebracht hat, dass man jemandem, der in Not ist, helfen sollte.“ Das Moosmädchen zog die Pflänzchen-Augenbrauen zusammen. „Ich bin nicht „in Not“ ! Das war nur ein kleiner Ausrutscher! Ich kann ganz gut auf mich alleine aufp…..“ Weiter kam sie nicht, denn schon donnerten laute Stimmen mit stampfenden Füßen um die Wette.
„Da ist sie ja!“ Leni wagte einen schnellen Blick über ihre Schulter. Oh nein! Die Jungs hatten doch aufgeholt! „Na, warst du doch etwas zu vorschnell und hast jetzt die Hosen voll?“, „Musstest wohl ein Päuschen einlegen?“, plapperten ihre Verfolger voll Bosheit durcheinander. „Schnell! Tut mir leid, aber ich muss dich kurz…“ Leni hob das Moosmädchen so vorsichtig wie möglich hoch und ließ sie in ihren Rucksack gleiten. Dabei hatte sie Jannik, Paul und Kai den Rücken zugewandt, sodass sie nicht sehen konnten, was sie da gerade tat. Dann sprang Leni auf, streckte ihnen die Zunge heraus und rannte los. „Hinterher! Das lassen wir uns nicht gefallen!“, „Wir werden die Ersten im Ziel sein!“, brüllten die Jungs stinkwütend hinter ihr.
Leni schlug das Herz bis zum Hals. Ihr Griff um den Rucksack, den sie wie ein Katzenbaby sicher an ihre Brust gepresst hielt, wurde noch etwas fester. Darin raschelte und rappelte es. „Nur noch ein kurzes Stück! Halte durch!“, japste Leni zwischen schnellen Atemzügen. Noch ein Rascheln. Ein aufgeregtes Murmeln. Dann hörte Leni ein *KLACK* *KLACK* und ein etwas leiseres *PLOPP* *PLOPP* *PLOPP*, dicht gefolgt von dem Aufheulen der Jungs. Eingeklemmt zwischen Brotbüchse und Federmappe, rief das Moosmädchen aus dem Rucksack heraus: „Schau nach, ob es geklappt hat!“ Leni wurde etwas langsamer und blickte sich um. Nun ein ganzes Stück von ihnen entfernt, saßen Jannik, Paul und Kai auf ihrem Allerwertesten. Um sie herum lagen Tannenzapfen verstreut, die das Moosmädchen auf sie hat herabfallen lassen. Leni schmunzelte. „Anscheinend. Die werden dann wohl noch ein bisschen mit Jammern beschäftigt sein.“ Die dicke Rucksackschleife verschob sich und machte ein paar Moosbüscheln und einer Stupsnase Platz. Das Moosmädchen kicherte. „Na dann schaffen wir es ja ungestört hinunter! Ich muss zum Blubberbeerentee wieder zu Hause sein!“, verkündete sie fröhlich und verschwand wieder im sicheren Rucksackinneren.
Kapitel 2
Noch zwei Treppenstufen und Leni würde wieder festen Boden unter den Füßen haben. Sie hielt kurz inne. Würde dann auch ihr erstes Abenteuer zu Ende sein? Leni räusperte sich. Die Worte wollten ihr nur schwer über die Lippen kommen. Mit einer Stimme so dünn und knittrig wie zu oft gefaltetes Papier, teilte sie dem Moosmädchen in ihrem Rucksack mit: „Wir sind da. Außer uns scheint auch niemand weiter hier zu sein.“ Sofort steckte das Moosmädchen ihren Kopf heraus. „Du bist ja schneller als ein Eichhörnchen auf Nusssuche!“, lobte sie ihre Retterin mit einem erleichterten Seufzen. Leni trottete so gar nicht weiter flink wie ein Eichhörnchen die letzten Stufen hinunter. Sie ging in die Hocke und stellte ihren Rucksack vorsichtig auf dem Waldboden ab, damit das Moosmädchen herausklettern konnte.
Während Leni ihrer neuen, kleinen Freundin dabei zusah, wie sie die weichen Moospolster ihres Röckchens ordnete, versuchte sie sich an einem Lächeln, obwohl ihr nicht danach zu Mute war. Das Moosmädchen schien ihre Traurigkeit zum Glück nicht zu bemerken, denn es plapperte munter drauflos: „Da fällt mir ein… Ich habe dir noch gar nicht meinen Namen gesagt.“ In Lenis Augen blitzte etwas auf. Wer seinen Namen verrät, möchte auch nicht gleich vergessen werden, dachte sie bei sich und beeilte sich laut zu sagen: „Oh, und ich dir auch nicht meinen. Ich heiße Leni!“ Auf das freundliches Gesicht des Moosmädchens legte sich ein ernster Ausdruck. „Es ist sehr schön, dich kennenzulernen, liebste Leni. Und nun zu meinem Namen: Du musst wissen, dass ihn zu erfahren, eine große Ehre ist.“ Es nickte gewichtig. „Die hast du dir mit der Rettungsaktion auch wirklich verdient! Wer den Namen eines Moosweibleins kennt, kann es jederzeit zu sich rufen. Und da man ja nicht von andauernd von irgendwem gestört werden will, verraten wir unseren Namen nur ganz selten.“ Das Moosweiblein atmete tief ein. Feierlich verkündete es: „Mein Name ist Moosella. Wann immer du mich brauchen solltest: Ich bin für dich da.“ Der elegante Knicks war dann zu viel. Leni wischte sich eine Freudenträne von der Wange. Sie schniefte: „Mir ist da was ins Augen gekommen.“ Moosella kräuselte keck die Nase. „Hauptsache es war kein Tannenzapfen.“
„Moosella…“ Leni schaute verlegen auf ihre Schuhspitzen. „Könnte ich vielleicht…Könnten wir… Ich meine du musst natürlich nicht… Aber…“ Das Moosmädchen verschränkte die dünnen Arme vor der Brust. „Nun sag schon, was dir auf dem Herzen liegt.“ Leni schaute ihr hoffnungsvoll in die schillernden Augen. „Könnte ich auch eine Tasse Blubberbeerentee probieren? Jetzt gleich? Bei dir zu Hause? Ich würde so gerne mit dir mitkommen.“
Moosella klatschte begeistert in die Hände. „Natürlich!“, rief sie mit einem breiten Sonnenscheinlächeln aus. „Darauf hätte ich aber auch selbst kommen können! Du wirst unseren Tee sowas von mögen! Er schmeckt nach…“ Sie leckte sich über die grünen Lippen. „…den runden, süßen Spinnenwebennestern, die ihr Zuckerwatte nennt! Und macht herrlich blubbrige Blasen! In deinem Mund und später auch in deinem Ba… Ach, das wirst du schon bald selbst herausfinden!“, kicherte Moosella. Voller Vorfreude marschierte sie auch sogleich los. Fröhlich rief das Moosmädchen Leni über die Schulter zu: „Komm schon! Ich höre nicht das Tritratrampeln deiner Menschenfüßchen! Mein Dorf ist gleich hinter den nächsten sieben Büschen!“
Leni schaute schnell noch einmal hoch zum Baumkronenpfad. Zum Glück war noch immer keiner ihrer Klassenkameraden zu sehen. „Sie können sich auch ruhig noch etwas mehr Zeit la… Oh, nein!“ Vor lauter Abenteuerlust hatte sie etwas vollkommen verdrängt! Mit ein paar langen Schritten war Leni bei Moosella, die schon fast in das Waldgrün eingetaucht war. „Warte! Was, wenn meine Klasse schon vor uns wieder hier sein wird? Alle werden mich suchen und Frau Rosenblatt macht sich dann bestimmt schreckliche Sorgen!“ Leni seufzte. „Vielleicht müssen wir das Teetrinken doch auf ein anderes Mal verschieben…“ Moosella grinste breit. „Müssen wir nicht! Folgst du mir, in mein Zuhause, verlässt du die Menschenwelt und betrittst die Anderswelt: eine Welt voller fantastischer Wesen und Magie. Während wir dort gemütlich Blubberbeerentee trinken, hat sich der Zeiger auf der Menschenuhr nur um ein paar Minuten weiter bewegt. Du wirst also bestimmt rechtzeitig wieder hier sein.“ Moosellas Lachen sprang auf Leni über. „Dann kann es ja immer noch der tollste Tag aller Zeiten werden!“
Kapitel 3
„Wirklich? Es geht unter die Erde? Außerdem passe ich da niemals durch – selbst wenn ich auf dem Bauch krieche!“ Leni starrte misstrauisch auf das Wurzelwerk einer alten Eiche. Moosella stemmte die Hände in die Hüfte. „Ihr Menschen seid so ungeduldig! Glaubt immer, alles schon vorher zu wissen. Wie wäre es mit einer kleinen Portion Vertrauen?“ Das Moosmädchen kletterte flink auf einen besonders dicken Wurzelstrang und erklärte: „Halte dich bereit – und lauf auf keinen Fall davon!“ Sie winkte lässig mit der Hand ab. „Oder mach einfach die Augen zu. Ich werde dich führen. Das wird schon.“ „Wovor sollte ich weglaufen?!“, fragte Leni, nun doch etwas verschreckt. Moosella hob nur einen Zeigefinger an ihre Lippen und bedeutete ihrer Freundin damit, jetzt mucksmäuschenstill zu sein. Leni verschränkte die Arme vor der Brust, die Augen in höchster Konzentration auf Moosella gerichtet. Sie war schließlich kein Hasenfuß und wollte auf keinen Fall etwas verpassen!
Das Moosmädchen stampfte dreimal kräftig auf das knorrige Holz unter ihren Füßen. Sie begann, Wörter zu murmeln, die Leni nicht verstand. Sie klangen wunderschön. Leni sah zu, wie auf dem dunklen Braun ein zartes Grün aufflackerte. Erst war es ganz schwach, doch mit jedem weiteren melodiösen Ton, den Moosella den fremdartigen Worten verlieh, gewann es an Leuchtkraft. Das grüne Funkeln erweckte die knorrigen Wurzelstränge zu neuem Leben. Es knackte und ächzte, als sie sich zu einem runden Portal formten. Leni blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Hinter einem zarten, grünen Schleier, kam wirklich eine hügelige Landschaft zum Vorschein. Leni konnte in der Ferne die ersten Hütten eines kleinen Dorfes erkennen!
„Kommt ihr jetzt rein oder nicht? Es zieht!“ Leni schrie erschrocken auf. Ein mürrisch dreinblickendes Männlein hatte seinen kantigen Kopf durch den Schleier gesteckt. „Entscheidet euch gefälligst! Meine Halme sind schon ganz unordentlich!“, hörte es nicht auf zu schimpfen, während es mit seinen langen, pelzigen Fingern versuchte, das Grasbüschel auf seinem Kopf zu richten. Es wollte ihm nicht gelingen. Mit einem rumpeligen Knurren und einem letzten drohenden Schwingen seines haarigen Fäustchens, zog es sich wieder zurück. Marlene blinzelte und blickte verdutzt seinen zwischen Gräsern und bunten Blumen wandernden Halmen hinterher. Moosella hielt sich den Bauch vor lachen. „Tun wir lieber, was er sagt. Wiesengnome können ganz schön nachtragend sein. Um zu meinem Dorf zu gelangen, müssen wir ihre Wiese überqueren. Und du hast gewiss ebenso wenig Lust auf so einen grantigen Verfolger wie ich!“, gluckste das Moosmädchen und zog Leni mit sich. Gemeinsam traten sie durch das Portal, hinein in die Anderswelt.
Da, wo der sanfte Schleier über Lenis Haut strich, kribbelte es leicht. Die fremde Welt war nicht länger ein schönes Bild, auf das sie schaute. Sie spannte sich um sie herum auf. Wurde größer und größer. Oder wurde sie selbst kleiner? Bald erschien Leni die Wiese, auf die sie hinausgetreten waren, unendlich weit. Mit jedem weiteren Schritt wuchsen die Grashalme ein Stückchen mehr. Nun reichten sie ihr schon fast bis zu den Schultern!
Bevor Leni auch nur ein wenig begreifen konnte, was gerade mit ihr geschehen war, wurde sie von den Beinen gerissen und im Kreis herumgewirbelt. Moosellas Jauchzen klingelte hell in ihren Ohren. „Das wollte ich schon die ganze Zeit machen!“, rief das Moosmädchen fröhlich. „Nun bist du endlich so groß wie ich! Oh, wir werden so viel Spaß zusammen haben!“ Moosella drückte Leni noch einmal herzlich und ließ ihr dann erst einmal ein bisschen Luft zum Atmen. Leni pustete sich eine wirre Strähne aus der Stirn und schenkte ihrer Freundin ihr schönstes Lächeln. „Das glaube ich auch!“
Kapitel 4
„Möchtest du mal riechen?“ Eine Blume im schönsten Erdbeereisrot schwebte genau vor Lenis Nase. „Das solltest du lieber nicht tun!“ warnte Moosella. Doch es war bereits zu spät. Leni hatte bereits daran geschnuppert. Und musste nun kräftig husten und prusten. „Das riecht ja…“ „Furchtbar? Nach Mistkäferbällen?“, kicherte da jemand über ihr frech. „Nö. Das sind die Grünen. Die Roten riechen nach Stinkefüßen!“, merkte eine zweite Stimme heiter an. „Merlin und Merle! Ihr Zwei seid unmöglich! Sucht euch gefälligst jemand anderen für eure dummen Streiche!“, zischte Moosella, die vor Ärger blitzenden Augen nach oben gerichtet. „Leni ist zu Besuch aus der Menschenwelt! Was soll sie nur über uns denken?“ Leni folgte dem Blick des Moosmädchens und sah direkt in die wunderschönen Gesichter von zwei – konnte das sein? – Feenkindern. Es mussten Feen sein, denn ein jedes trug ein einzigartiges Flügelpaar. Diese waren so zart, dass die hindurch scheinenden Sonnenstrahlen ihre Muster in den schönsten Farben schimmern ließen.
Merlin hielt die rote Blume immer noch als Beweis für den Schabernack, den er sich mit Leni erlaubt hatte, in der Hand. Haselnussbraunes Haar umrahmte in weichen Locken seine rosigen Wangen. Er hätte ganz lieblich und harmlos aussehen können, wäre sein Mund nicht zu einem frechen Lächeln verzogen gewesen. „Es tut uns sehr leid, aber das überraschte Gesicht des Menschenkindes sah einfach zu lustig aus! Seid uns nicht böse, ja?“ Das Feenmädchen Merle kam etwas näher herangeflogen. Ihr sonnengelbe Haar war mit Blütenranken, die sich auch auf dem seidenen Stoff ihres Kleides wiederfanden, kunstvoll nach oben gesteckt. Reumütig blickte sie Leni aus ihren großen Augen an. Sie waren von einem klaren Himmelblau. Genau wie die des Feenjungen. Sie mussten wohl Geschwister sein.
Moosella schob sich schnaubend vor Leni. „Eine einfache Entschuldigung reicht nicht! Ihr müsst es wieder gutmachen! Mal sehen…“, sie senkte das Kinn und wackelte nachdenklich mit den Füßen. Dann schoss ihr Kopf nach oben. Moosella hatte einen leidenden Gesichtsausdruck aufgesetzt. Sie übertrieb ein bisschen – vielleicht auch ein bisschen sehr. Trotzdem erklärte das Moosmädchen ernst: „Leni und ich sind schon sehr lange über diese Wiese gewandert. Nun sind unsere Füße ganz müde. Bis zu meinem Dorf ist es jedoch noch ein ganzes Stück.“ Auf ihre Lippen stahl sich ein selbstzufriedenes Grinsen, während sie erklärte: „Mein liebe Freundin, die Nymphe Ophelie, hat mir erst gestern von ihrem Plausch mit der Riesin Bruna erzählt. Die hat ihr verraten, dass Feen für ihre zarte Gestalt sehr kräftig sind. Ihr werdet Leni und mich also den Rest des Weges fliegen!“
Merlin zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Wenn es weiter nichts ist.“ Er flog direkt auf Leni zu, die sich etwas überrumpelt fühlte. So ein Flug mit den Feen wäre ja schon eine tolle Sache, aber was, wenn die Nymphe Ophelie etwas falsch verstanden und die Riesin mit ihrer eigenen Kraft geprahlt hatte? Leni riss die Arme hoch, während Merlin die seinen schon nach ihr ausstreckte. „Halt! Warte! Meine Füße sind noch ganz in Ordnung. Mir würde…Uahh!“ Schon waren sie in der Luft. Leni klammerte sich an Merlin fest. Die Augen hielt sie lieber geschlossen. Dafür nahm sie jedoch alles nur um so deutlicher wahr: den Wind in ihren Haaren, das Zwitschern von Vögeln, das gleichmäßige Schlagen der Flügel des Feenjungen. Wie hoch sie wohl schon waren? „Keine Sorge. Ich halte dich sicher. Du wirst nicht fallen.“ Merlins beruhigende Stimme ließ die ängstlichen Gedanken leiser werden. Nach drei tiefen Atemzügen öffnete Leni ihre Augen. Oh, sie waren hoch oben! Dem Himmel mit den Zuckerwattewolken so herrlich nahe. Die Wiese unter ihnen sah aus wie ein grünes Meer auf dessen Wellen die bunten Blumen wie neugierige Fische schwammen. In Lenis Brust kribbelte es. Es war das gleiche Gefühl von Freiheit, das sie auf dem Pfad zwischen den Baumkronen gespürt hatte.
*WUSCH* Moosella und Merle sausten an ihnen vorbei. „Juhuuu! Das macht ja mehr Spaß als ein Wetthüpfen mit Kröten! Macht Platz, ihr lahmen Flatterer! Jetzt kommen wir!“, hörte Leni das Moosmädchen begleitet von dem perlenden Lachen der Fee begeistert rufen. Leni schaute Merlin mit einer hochgezogenen Braue an. „Na, lassen wir uns das gefallen?“, fragte sie ihn herausfordernd. Merlin schnaubte. „Jetzt solltest du dich gut festhalten“, warnte er sie vor und schlug kräftig mit den Flügeln. Leni schnappte nach Luft, als der Flugwind ihr die Wangen rot rieb. Die Welt raste als ein wilder Farbstrom an ihr vorbei. Leni jauchzte vor Freude.
Moosella hielt sich lachend den immer noch ganz luftigen Kopf. „Ich muss wohl zugeben, dass ihr zwei Flügelschläge schneller ward als wir.“ „Mindestens drei!“, machte Leni klar, während sie versuchte, ihre wackeligen Beine wieder sicher auf dem Boden stehen zu lassen. „Genauer gesagt, waren es drei und dreiviertel.“ Ohne auch nur ein bisschen aus der Puste zu sein, klopfte Merlin sich lässig Blütenstaub von der Weste ab. „Alter Angeber!“ Merle trat neben ihren Bruder. Mit einem kräftigen *FLAPP* spannte sie ihre weiten Flügel auf. Getroffen, schrie Merlin überrascht auf und landete auf seinem Allerwertesten. Leni, Moosella und Merle hielten die Luft an. Sie wollten wirklich nicht lachen. Doch als sich Merlin nun etwas ungelenk wieder aufrichtete und verärgert vor sich hin grummelte, konnten sie nicht länger an sich halten und prusteten los.
Der Feenjunge schaute die drei Mädchen aus verengten Augen an. „Das ist nicht lus…“ In seine linken Wange bohrte sich ein Lachgrübchen. „Na schön. Ist es doch“, musste er glucksend zugeben. Moosella hopste zu Merlin herüber und hakte sich bei ihm unter. „Wisst ihr, was man nach solch einem aufregenden Flug machen sollte?“, fragte sie keck in die Runde. Leni wusste es ganz genau. Sie nahm Merle an der Hand und hakte sich ebenfalls bei Merlin unter. Leni zwinkerte Moosella zu. Zusammen drehten sie die Geschwister zu den ersten Hütten des Moosdörfchens herum. Wie aus einem Munde verrieten Leni und Moosella den Feen auch sogleich die Antwort: „Gemeinsam einen leckeren Blubberbeerentee trinken!“
Kapitel 5
Die Häuser des Dorfes standen dicht an dicht. Ihre Dächer hingen tief und waren mehr mit Moos als mit Schindeln gedeckt. Ein jedes hatte einen kleinen Garten vor der kreisrunden Tür. Leni war, als habe sie wieder ein neues Reich betreten. Während die Sonne ihr helles Licht verschwenderisch über der weiten Wiese vergossen hatte, waren auf dem gewundenen Pfad vor ihnen nur ein paar Tupfer des gelben Scheins zu sehen. Dies war jedoch nicht weiter schlimm. In den Gärten wuchsen Pilze, deren bunte Kappen im Halbdunkel besonders kräftig leuchteten. Und über ein jeder Eingangstür der Mooshäuschen hing eine kleine Laterne. Darin glühte dasselbe warme, orangene Licht, das auch die kleinen Fenster erhellte. Fröhliche Lieder, raues Lachen und muntere Gespräche drang zu ihnen heraus. Da drinnen musste es lustig zugehen. Zu gerne wäre Leni stehengeblieben, um weiter zu lauschen, doch sie musste sich beeilen, um mit dem vorauseilenden Moosmädchen Schritt halten zu können. „Kommt! Sonst wird der Tee noch kalt!“, trieb Moosella da auch schon Leni und die Feenkinder an. „Gibt es auch Honigkekse dazu?“, wollte Merlin wissen und rieb sich hungrig seinen Bauch. Mit vier langen Schritten hatte er Moosella eingeholt. „Was denkst du denn? Natürlich! Meine Mama backt die besten Honigkekse der ganzen Anderswelt!“, hörte Leni Moosella stolz sagen, bevor sie sich Merle und ihr zuwandte und etwas lauter warnte: „Kommen wir aber zu spät, werden meine Geschwister die Kekse bestimmt schon verputzt haben!“ Leni und Merle nickten. Auf die Kekse wollten sie auf keinen Fall verzichten.
„Seht ihr das Dach, auf dem weiße Buschwindröschen blühen? Gleich sind wir da!“, freute sich Moosella ein paar schnelle Schritte später, ihren Freunden ihr Zuhause zeigen zu können. Leni war ja schon so gespannt! Das wollte sie Moosella auch gleich mitteilen, doch dann forderte etwas Anderes ihre Aufmerksamkeit ein. Genau vor ihrer Nase schwebte eine helle Lichtkugel. Sie vibrierte und summte. Neben ihr erschien eine zweite und über ihr eine dritte. „Komm mit uns! Wir kennen den Weg zu einem noch spaßigeren Ort“, wisperten die Kugeln in einem zuckersüßen Stimmchen vereint. Leni konnten den Blick nicht von ihnen abwenden. Ihr glitzerndes Licht und das liebliche Summen weckte in ihr eine tiefe Sehnsucht. Leni vergaß alles, was gewesen war. Sie wollte nur noch diesen wundersamen Kugeln folgen.
„Schusch! Schusch! Weg mit euch! Das Menschenkind bleibt genau wo es ist!“ Merles zarte Hände fuhren zwischen Leni und die Kugeln. Von ihrem wilden Wedeln aufgeschreckt, wirbelten sie erst durcheinander und stoben dann davon. Moosella stellte sich schützend vor die immer noch starr dastehende Leni. Ärger und Empörung ließen die Stimme des Moosmädchens zu einem Donnergrollen werden, als sie den schwindenden Lichtern hinterher rief: „Wagt euch ja nicht noch einmal in unser Dorf! Sonst sperr ich euch in ein Sauergurkenglas ein!“ Moosella ballte die Fäuste und murmelte ärgerlich: „Das war jetzt schon das vierte Mal! Die Irrlichter werden immer frecher!“ In der Ferne hörten sie die Kugeln seufzen: „Schade.“
Merlin griff nach Lenis Schultern und drehte sie zu sich herum. „Wie heißt du?“, wollte er mit grauen Sorgenwolken in seinen himmelblauen Augen von ihr wissen. Leni legte scharf nachdenkend die Stirn in Falten. „Leni“, antwortete sie ihm ruhig. Der Feenjunge nickte knapp. „Sehr gut. Und wie heiße ich?“ Leni blinzelte. Einen viel zu langen Moment sagte sie nichts. Merlins Herz pochte so schnell, dass es ihm fast aus dem Hals springen wollte. Bis Leni endlich zwischen zusammengepressten Lippen „Röcksenplocks!“, herausbrachte. In ihren Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen. Merlins Schultern sackten vor Erleichterung nach unten, während gleichzeitig Groll seine schönen Gesichtszüge verfinsterte. „Das war wieder nicht witzig!“, sagte er etwas zu leise. Sofort tat Leni leid, dass sie ihn so veralbert hatte. Schließlich hatte er sich große Sorgen um sie gemacht. „Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen“, entschuldigte sie sich schnell. Merlin verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Mundwinkel hoben sich leicht. Er konnte Leni einfach nicht lange böse sein. „Wenn ich dir verzeihen soll, wirst du deinen Honigkeks mit mir tauschen, wenn er mehr Streusel hat als meiner!“ Leni zog die Nase kraus. „Auch wenn es nur ein Streuselchen mehr ist?“ Merlin schob das Kinn vor. „Auch dann.“ Merle und Moosella verdrehten über diese komische Abmachung die Augen. Merlin ignorierte es. Leni ergriff schmunzelnd die Hand des Feenjungen und versprach feierlich: „Abgemacht!“
Da schwang die Tür des kleinen Häuschens auf. „Was ist denn hier draußen los?“ Eine Moosweiblein, auf deren Kopf sich ebenso viele grüne Pflänzchen auftürmten, wie auf Moosellas wuchsen, trat heraus. Moosella fiel ihr mit einem fröhlichen Lachen um den Hals. „Mama!“ Das Moosweiblein drückte ihre Tochter fest an sich. „Mein Mooschen! Wir haben dich schon vermisst!“ Moosella gab ihrer Mama ein Küsschen auf die Knubbelnase. „Nun bin ich ja wieder da! Pünktlich zum Nachmittagstee! Und ich habe Freunde mitgebracht!“ Moosella trat zur Seite und gab den Blick auf die Leni und die Feenkinder frei. Merle senkte höflich den Kopf. Merlin vollführte in eine elegante Verbeugung. Leni winkte ihr schüchtern zu.
Das Moosweiblein schenkte ihnen ein so herzliches Lächeln, dass ihnen ganz warm wurde. „Ich freue mich sehr, euch kennenzulernen! Seid willkommen!“, begrüßte sie die Freunde. „Jedoch…“ Ihr Lächeln verblasste etwas. Verlegen strich sie mit ihren grünen Händen über ihre Schürze. „Ich befürchte, ich muss euch gleich enttäuschen.“ Das Moosweiblein schaute die Freunde aus ihren schillernden Augen traurig an. „In meiner Vorratsdose ist keine einzige Blubberbeere mehr für einen Tee. Das ist mir noch nie passiert.“
Leni hatte den süßen Geschmack von Zuckerwatte schon auf ihrer Zunge schmecken können. Nun wurde er bitter. Doch genau wie die Anderen, versuchte sie sich dem Moosweiblein zu Liebe davon nichts anmerken zu lassen. Moosella unterbrach als Erste die betretende Stille: „Das macht doch nichts, Mama! Dann essen wir eben die Honigkekse!“ Die Wangen des Moosweibleins färbten sich wieder etwas grüner. Begeistert rief sie aus: „Von denen habe ich mehr als genug!“ „Ähhhemm“, mischte sich ein zartes Stimmchen ein. „Wenn ich da noch etwas vorschlagen dürfte..“
Auf dem Moosdach stieg aus einem Buschwindröschenkelch eine veilchenblaue Kugel auf. Moosella stemmte erbost die Hände in die Hüfte. „Oh, nein! Du solltest doch mit zusammen mit den Anderen verschwunden sein!“, schimpfte sie das auf sie zuhaltende Irrlicht aus. „Ich habe nichts Böses im Sinn! Ich will doch nur ein bisschen Spaß haben!“, piepste es ebenso aufgebracht und schwebte genau vor die in einem ärgerlichen Giftgrün leuchtenden Augen des Moosmädchens. Das kleine Irrlicht ließ sich nicht von Moosella einschüchtern und schon gar nicht verscheuchen!
In der Kugel kreiste der violette Leuchtnebel gleich einem Wirbelsturm. Aus ihm formte sich ein kleines, rauchiges Wesen. Um seinen Kopf züngelten die lila Schwaden wie lodernde Flammen auf, als es mit spitzer Stimme forderte: „Ich weiß, wie ihr eure Blubberbeeren noch heute bekommen könnt! Wenn ich es euch verraten soll, müsst ihr mich mitnehmen!“ Moosella presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und schüttelte bestimmt den Kopf. Das Irrlicht stampfte mit einem Nebelfüßchen auf und flog zu Leni herüber. „Du vertraust mir doch bestimmt! Du würdest mich doch mitnehmen. Nicht war, Menschenkind?“, bat es sie um Unterstützung. Leni schluckte schwer. Das Irrlicht schaute sie mit seinen großen, tiefblauen Augen so flehend an, dass sie gar nicht anders konnte, als langsam zu nicken. „Ha!“ Mit einem mal war es wieder ganz heiter und flitzte in seiner Kugel im Zickzack. „Das Menschenkind ist die Bestimmerin! Ich komme mit!“, jubelte es.
Merle zuckte mit den Schultern. „Ich fände es auch nicht schlecht, wenn unser gemeinsames Abenteuer noch ein bisschen weiter ginge.“ Merlin schnappte das Irrlicht so schnell, dass Leni nur einen leichten Hauch an ihrem Gesicht spürte. Der Feenjunge schaute das Nebelwesen streng an. „Zuerst verrätst du uns aber, wohin die Reise führt! Ich weiß ganz genau, dass man Blubberbeeren nur in einer Vollmondnacht ernten kann. Und bis zur nächsten dauert es noch eine Weile. Wer also hat noch welche? Die Trolle im Bruckelgebirge? Die Nymphen aus dem Schlummersee? Oder etwa…“ Der Feenjunge schüttelte sich. „Die schuppigen Platschlinge aus dem Matschmoor?“ Das Irrlicht kam ganz nah an die schimmernde Kugelwand heran, die es von Merlin trennte. Es wisperte geheimnisvoll: „Den Ort hast du schon genannt. Nur wer oder was wohnt dort und mag Blubberblasen genauso sehr wie ihr? Kannst du es erraten?“
Moosella stöhnte und warf die Arme in die Luft. „Natürlich! Welch anderen Ort könnte ein Irrlicht vorschlagen, als das Moor und welch andere beste Freundin haben, als die Hexe Rumpla?“ Das Irrlicht verschränkte die Arme vor der Brust. „Was wisst ihr schon über Rumpla? Genau! Nichts, außer getuschelte Gerüchte! Ihr feinen Pinkel habt sie doch noch nie im Matschmoor besucht! Sie ist sehr nett!“ Moosella legte den Kopf schief. „Ja, zu Irrlichtern vielleicht, die verlorene Wesen in ihr Unheil locken.“ „Also ich würde sie gerne kennenlernen. Vielleicht hat das Irrlicht ja recht und sie ist wirklich nett. Was kann uns schon passieren, wenn es uns begleitet?“, wandte Leni ein. Moosella klappte schon den Mund auf, um heftig etwas zu erwidern, doch Merlin kam ihr zuvor. „Am besten nehmen wir ein paar Honigkekse. Ganz bestimmt kann man damit auch eine Hexe Rumpla milde stimmen. Und außerdem sind sie ein passend leckeres Tauschmittel für die Blubberbeeren.“
„Das ist eine gute Idee. Ich werde gleich einmal welche für euch einpacken“, schlug das Moosweiblein vor. Bevor sie in ihrem Häuschen verschwand, nahm sie Moosella noch einmal bei den Händen. „Nun schau nicht so, mein Mooschen. Man sollte schlechten Reden nie Glauben schenken. Besuche nur das Hexlein und lerne sie wirklich kennen. Bring ihr Freundlichkeit entgegen und wenn sie diese nicht erwidern sollte, könnt ihr noch immer umkehren.“
Zwischen Moosellas Pflänzchenbrauen grub sich eine tiefe Falte, während sie zusah, wie ihre Mama durch den Flur in die Küche eilte. In der sollten sie eigentlich gerade auf weichen Moosstühlen um den alten Eichenholztisch sitzen und dampfenden Blubberbeerentee trinken. Wenn das noch geschehen sollte, musste sie dem Plan des Irrlichts wohl oder übel zustimmen. Vielleicht hatte Mama auch ein ganz kleines bisschen recht. Vielleicht war dieser Ausflug wirklich eine gute Möglichkeit, ihre Vorurteile gegenüber der Hexe Rumpla im Moormatsch versinken zu lassen. Außerdem mochte Moosella sich selber nicht, wenn sie so grantig war. Das Moosmädchen nickte einmal. „Na schön“, lenkte sie ein. „Aber Rumpla bekommt nur eine Chance!“ Moosella zeigte mit einem Finger auf das Irrlicht. „Genauso wie du!“ „Das ist doch besser als nichts!“, piepste dieses sogleich. Mit einer kräftigen Rolle vorwärts ließ es seine Kugel aus Merlins Händen gleiten „Beeilt euch, ihr feinen Pinkel! Sonst macht sich Rumpla mit den letzten Blubberbeeren selbst einen Tee! Schnappt euch die Kekse und wir fliegen los!“
Kapitel 6
„Es sieht doch gar nicht so grausig aus“, stellte Leni fest und lehnte sich in Merlins Armen etwas weiter vor. Unter ihnen rollte sich eine weite Fläche aus. Zwischen flachem Grün, spiegelte sich in Pfützen das Blau des Himmels mit weißen Wolkentupfern. Leni schmunzelte. Sie stellte sie sich als Puzzlestücke vor, die man nach Belieben zu einem immer neuen Wolkenbild zusammensetzen konnte. Dies war mal eine andere Art, den Wolken lustige Formen zuzuordnen. „Oh, der Schein trügt. Sei froh, dass du keinen Fuß auf diesen unsicheren Boden setzen musst. Ein falscher Schritt, und du versinkst in schlammiger Tiefe“, holte sie Merlin ganz schnell wieder aus ihren Träumereien zurück. „Vorsicht! Oh, nein!“ Merlins Kopf schnellte bei dieser schrillen Warnung wieder nach oben. Er hatte auf Leni und nicht nach vorne geschaut. Es war zu spät. Er konnte dem Gewirr aus Ästen eines dürren Baumes nicht mehr ausweichen, sich nur zur Seite drehen, damit das Menschenkind in seiner Obhut nicht von den gefährlichen Spitzen verletzt wurde.
„Ich nehme sie! Befreie dich erst einmal selbst!“ Leni war ganz schwindelig. Etwas zog sanft aber bestimmt an ihrem Arm. Sie nahm das Flattern von Flügeln wahr. Ein angestrengtes Schnaufen. Dann spürte Leni den weichen, jedoch kalten Boden unter ihren matten Gliedern. Jemand strich ihr immer wieder sanft über den Kopf. „Tut dir etwas weh? Hast du dich verletzt?“ Federleicht tasteten Hände über ihren Körper. Leni riss die Augen weit auf. Über ihr schwebten die sorgenvollen Gesichter von Merle und Moosella. Doch Lenis erster Gedanke galt nicht ihr selbst. „Merlin!“, rief sie zittrig aus. Sogleich erklang seine sanfte Stimme: „Ich habe nur vier bis sieben Kratzer. Aber keine Angst – die heben meine Schönheit nur noch mehr hervor.“ Der Feenjunge landete neben ihr. Der linke Ärmel seiner Jacke hatte einen Riss und über seine sonst makellose Stirn zog sich ein roter Striemen. Leni atmete tief durch die Nase ein. „Du warst wegen mir unaufmerksam. Der Zusammenstoß war meine Schuld.“ „Ach was!“ Merle half ihrer Freundin auf. „Merlin weiß, dass man beim Fliegen immer nach vorne schauen soll!“ Moosella musterte den Feenjungen mit spöttisch erhobener Pflänzchenbraue. „Wenn er sich gleich wieder selbst mit Rosenblüten bewerfen kann, muss mit ihm wohl alles noch in Ordnung sein.“ Um Leni, die immer noch zerknirscht dreinschaute, dies zu beweisen, flog Merlin für sie noch einmal eine elegante Luftschleife. Die hob auch Lenis Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. Merle und Moosella nur ein Schnauben.
„Du hast es geschafft, mein liebstes Irrlichtlein! Du hast neue Freunde zu mir geführt. Und es ist sogar ein Menschenkind unter ihnen!“ Da stand sie vor ihnen – die Hexe Rumpla. Mitten in einer Matschepfütze, was sie nicht im geringsten zu stören schien. Das Irrlicht tauchte hinter ihrem löchrigen Knickehut auf und landete sanft auf der Hexenschulter. Mit sich selbst sehr zufrieden, summte es: „Wenn ich eines kann, dann jemanden in das Moor locken!“
Zuerst war Leni von dem plötzlichen Auftauchen der doch mit ihrem nachtschwarzen Kleid und dem Rabenfederhaar recht düsteren Gestalt der Schrecken wie ein Blitz durch den zitternden Körper gefahren. Aber nun war das grell heiße Licht nur noch ein schwaches Nachleuchten in der dunklen Donnerwolke, die sich in ihrer Brust auftürmte. Sie schaute das Irrlicht so finster an, wie sie nur konnte. „Du wolltest uns gar nicht helfen! Nur…nur…“, Leni fand die Worte im Grau ihrer Wut nicht. „In die Irre führen!“, warf Moosella die fehlenden Worte dem Irrlicht entgegen.
Die Hexe Rumpla stand ganz ruhig da, als könne sie nicht verstehen, warum sich die Neuankömmlinge so aufregten. „Irrlicht…“ Sie legte den Kopf schief, sodass es ihr Flüstern hören konnte. „Was hast du ihnen versprochen?“ Das Irrlicht streckte in seiner Kugel trotzig das Kinn vor. Seine Nebelschwaden flackerten aufgeregt, sodass sich seine kleine Gestalt immer wieder im lila Rauch auflöste, um sich gleich wieder neu zu formen. „Blubberbeeren“, verriet Merlin schließlich zerknirscht, was das Irrlicht sich anscheinend nicht zu sagen traute oder wollte. Merle verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Ärger schwappte in großen Tümpelwellen auf die Hexe zu. „Weißt du überhaupt, was Blubberbeeren sind?! Oder wolltest du uns einfach nur hierher locken?!“ Moosellas Ton war bitter. Er sollte es auch sein, um nicht den kleinsten Hinweis auf den süßen Geschmack der Beeren zu geben.
Rumpla hob die schob die Augenbrauen zu einer breiten Linie zusammen. „Es tut mir furchtbar leid. Das weiß ich nicht.“ Merle nickte grimmig. „Hab ich mir schon gedacht.“ „Fliegen wir wieder nach Hause. Hier haben wir nichts mehr zu suchen.“ Moosella kehrte der Hexe den Rücken zu. Leni atmete schwer ein. So hatte sie sich das Zusammentreffen mit der Hexe Rumpla nicht vorgestellt. Sie schaute noch einmal zu ihr hin und zuckte zusammen. Dieses Mal nicht vor Schreck, sondern vor Mitleid. Rumpla stand immer noch in ihrer Pfütze. Dicke Tropfen platschten in das schlammige Wasser und ließen es auf ihr Kleid spritzen. Die Tropfen quollen jedoch nicht aus einer Regenwolke, sondern aus ihren traurigen Augen heraus. Rumpla weinte.
Merlin wollte Leni für den Abflug auf seine Arme nehmen, doch sie wich ihm aus. „Warte noch. Wir können Rumpla nicht so zurücklassen.“ Merlin warf der Hexe unter gesenkten Lidern einen Seitenblick zu und murmelte: „Vielleicht spielt sie uns jetzt auch wieder nur etwas vor. Es ist schwer, ihr nach dieser List noch etwas zu glauben.“ Merlins Zweifel zerrten und zupften an Leni. In eine falsche Richtung. Weg von der Wahrheit. Weg von dem, was richtig war zu tun. Leni spürte das einfach, so wie sie auf dem Baumkronenpfad gespürt hatte, dass es richtig war, Moosella in Sicherheit zu bringen. Die Hexe Rumpla war auch in Not – in Herzensnot. Darum wandte sie sich zu ihren Freunden um und erklärte mit ernster Miene: „Die Hexe Rumpla war von der List des Irrlichts ebenso überrascht wie wir. Was, wenn sie davon wirklich nichts gewusst hat und uns nur hier haben wollte?“ Moosella fuhr sich ungehalten durch das dichte Mooshaar. „Dann hätte sie uns einfach nur nett bitten müssen, oder wenn sie sich nicht aus ihrem Moor heraus traut, dem Irrlicht ein bisschen ehrliche Höflichkeit beibringen sollen!“
„Ihr hättet meine Einladung gewiss nicht angenommen. Niemand tut das“, schniefte die Hexe. Sie strich sich ein paar Rabenfedersträhnen von den tränennassen Wangen. „Aber schon gut. Das muss ich wohl so hinnehmen. Niemand möchte mit jemandem befreundet sein, dessen größter Spaß es ist, in Moorpfützen zu springen und im Schlamm mit den Platschlingen Matschball zu spielen.“ „Und mit Irrlichtern, die es gar nicht verdient haben, die Sterne anzuschauen“, wisperte das Irrlicht so leise, dass es Leni fast entgangen wäre. Rumpla rieb sich harsch über die Augen, um ihre Traurigkeit wegzuwischen. Es brachte nichts. Sie war jetzt als eine schwache Schlammspur auf ihren blassen Wangen nur noch sichtbarer. „Bevor ihr geht, ähm, ich meine fliegt: Könnt ihr mir wenigstens sagen, was nun diese Blubberbeeren sind? Ich wüsste es wirklich zu gerne“, war ihre letzte, vorsichtige Bitte.
„Ach was soll’s ! Fliegendreck und Käferspucke!“ Moosella löste sich aus dem Kreis ihrer Freunde, ging mit langen Schritten auf Rumpla zu und zog sie in eine feste Umarmung. Genauso schnell, wie sich das Moosmädchen über jemanden ärgern konnte, schloss sie auch, die die es verdient hatten, in ihr Herz. „Blubberbeeren schmecken nach Zuckerwolkenwirbeln“, sagte sie nahe an Rumplas Ohr, als würde sie ihr ein Geheimnis verraten. „Sie wachsen an Sträuchern, tief im Glimmerwald. Es ist eigentlich nichts besonderes an ihnen. Ein paar rote Beeren zwischen wildem Grün“, ergänzte Merlin, während er auf Rumpla und Moosella zuschritt. Moosella löste die Umarmung, um mit Rumpla auch Merle besser zuhören zu können, die zusammen mit Leni ihrem Bruder gefolgt war. „Die Magie der Blubberbeeren zeigt sich nur in Vollmondnächten. Steht der helle Mond am höchsten, färbt sich das ihr Rot in ein funkelndes Weiß. Erst dann bekommen sie ihren süßen Geschmack. Man muss sie sofort ernten, denn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne überziehen sie mit roter Farbe und lassen sie wieder bitter werden.“
Rumpla sah die Feen mit großen Augen an. „Mondperlen!“, platzte es begeistert aus ihr heraus. „Ihr meint gewiss Mondperlen! Sie wachsen am Rande meines Moores! Ich habe sie beim letzten Vollmond gesammelt! Wartet! Ich zeige sie euch!“ Rumpla formte an ihrem Mund die Hände zu einem Trichter und rief laut: „Mein herrlich furchtbar hässliches Schlumperhäuschen! Komm herbei!“ Dann blickte sie die Freunde mit wackelnden Augenbrauen an. „Passt gut auf! Mein Hexenhäuschen ist flink!“
Die Hexe hatte nicht übertrieben. Erst war das Häuschen nicht mehr als ein kleiner, wankender Punkt am Rande der Moorwiese, doch rasch wurde er größer… und lauter. Rumpla kratzte sich verlegen am Nasenrücken. „Es quietscht ein bisschen.“ Das Häuschen war fast da. Auf seinen langen Stelzen rutschte und patschte es mit Ächzen und Krächzen durch das Moor. Rumpla stemmte die Arme in die Hüfte. „Na gut. Ein bisschen sehr“, musste sie zugeben, als es wackelig vor ihnen zum Stehen kam.
Leni wich schnell den auf sie zufliegenden Matschtropfen aus, und wenn sie ganz ehrlich war, auch vor dem Hexenhaus zurück. Jetzt, wo es vor ihnen als ein riesiges Gebilde aus morschen, von eingesickertem Moorschlamm schwarzen Brettern stand, war es ganz schön furchteinflößend. Zwischen den Ritzen glomm ein rotes Licht hervor. Aus zwei Schornsteinen auf seinem von Flechten schweren Dach pufften unaufhörlich graue Rauchwolken wie aus den Nüstern eines schnaubenden Drachen. Nun glaubte Leni wirklich, dass es mehr ein furchtbar hässliches Schlumperwesen als ein Häuschen war.
Für Rumpla war es beides. Voller Stolz gurrte sie: „Wer hört auf sein liebes Hexlein, wenn es nach ihm ruft? Richtig! Du, mein braves Schlumperhäuschen!“ Die Feenkinder und Leni staunten nicht schlecht, als das Häuschen vor Rumpla auf die knorrigen Knie ging, um sich von über die Eingangstür streicheln zu lassen. Kaum hatte die Hexe das grob rissige Holz berührt, öffnete sich die Tür mit einem Quietschen. Rumpla drehte sich mit einem breiten Grinsen zu ihren noch immer zögernden Gästen um. „Nur nicht so schüchtern! Mein Schlumperchen beißt nicht!“ Bevor sie einen Fuß über die Schwelle setzte, zog die Hexe die rabenschwarzen Augenbrauen zusammen und tippt sich kurz auf die gespitzten Lippen. „Zumindest in den letzten sieben Wochen nicht.“ Sofort stolperten Merlin, Merle, Moosella und Leni drei Schritte nach hinten. „Wir warten doch lieber hier und du bringst uns die Beeren nach draußen“, rief Moosella der Hexe zu. Rumpla machte ihrem Namen alle Ehre und lachte rau rumpelig auf. „Das war doch nur ein Scherz!“ Merlin schnaubte. „Sehr lustig! Wenn das Hexlein in Zukunft noch mehr Gäste haben möchte, sollte sie eine weniger erschreckende Begrüßung einfallen lassen.“ Leni schob sich mutig an dem Feenjungen vorbei, den Blick gebannt auf das geheimnisvolle Innere des knarzenden Häuschens gerichtet. „Vielleicht sollte sie das auch nicht. Vielleicht ist dies gerade das Tolle an einem Besuch bei der Moorhexe Rumpla.“ Verblüfft schaute der Feenjunge dem Menschenmädchen hinterher, wie sie ohne noch einmal zu zögern durch die Tür des Hexenhäuschens schritt.
Auch für die Feen und Moosella sollte es keine weitere Zeit zum Zögern geben. Das Irrlicht schwebte vor ihnen auf und ab. „Was ist? Steckt ihr mit den Füßen im Moormatsch fest? Auch wenn das Hexenhaus nicht beißt, ist seine Geduld nicht endlos! Tretet ein, sonst hat es sich gleich wieder auf seine hölzernen Füße gestellt und rast euch davon!“, trieb es sie an und flog sogleich auf die gerade noch offenstehende Eingangstür zu. Der Feenjunge beäugte prüfend das Häuschen. Und wirklich! Es erhob sich wankend mit einem Knacken und Knarzen. „Na wenigstens hat uns das Irrlicht diesmal ehrlich vorgewarnt.“ Merlin nickte seiner Schwester zu und schnappte sich Moosella. Bevor die Tür zufallen konnte, waren sie schon hindurch.
Kapitel 7
In ihren furchtsamen Vorstellungen hatten sie erwartet, in den Schlund der Moorwesens steigen zu müssen. Doch anstatt tiefem Rot und schattigem Schwarz war da nur Grün. Seltsam wundersame Pflanzen hatten den Raum ganz für sich eingenommen. Sie wuchsen prächtig in großen und kleinen Töpfen, fingen in Schalen an zu keimen, blühten in Kästen und ließen ihre kringeligen Ranken von der Decke hängen. Einige waren Merlin und Merle aus dem Glimmerwald bekannt, andere hatten sie noch nie in ihrem Leben gesehen.
Moosella sah aus den Augenwinkeln, wie Leni die Hand nach dem steinblauen Flaum einer puscheligen Blume ausstreckte. Erschrocken schnappte das Moosmädchen nach Luft. „Leni! Lass ja die Finger davon!“, stieß sie eine Warnung hervor. Leni zuckte zurück. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie es das letzte Mal ausgegangen war, als Moosella sie vor einer zu schön aussehenden Blume gewarnt hatte. Noch während Leni die Hand langsam sinken ließ, bog das Blümchen seinen Stängel so weit, dass es mit seinem weißen Blütenflaum sacht über Lenis Handrücken streichen konnte. Leni meinte ein leises *SCHNIFF SCHNIFF* zu hören und spürte gleichzeitig ein Kitzeln auf ihrer Haut. Das Puschelblümchen beschnüffelte ihre Hand! Leni musste kichern, zog die Hand aber nicht weg. Das Puschelblümchen schien sie schließlich für wohlriechend zu befinden, denn es schmiegte mit einem sanften Seufzen sein flauschiges Köpfchen an Lenis Arm.„Oh, ihr habt euch schon miteinander bekannt gemacht! Das ist toll!“, drang da die freudige Stimme der Hexe durch das Pflanzenlabyrinth zu ihr herüber. Leni streichelte vorsichtig den sanften Flaum ihres neuen flauschigen Freundes und murmelte: „Das finde ich auch.“
Rumpla schob ein riesiges Blatt mit zwölf Ecken zur Seite, duckte sich unter einem knallroten Blütenschirm weg, war kurz hinter einer Wand aus rosa Ranken verschwunden und tauchte schließlich mit einem fröhlichen Lächeln vor Leni, den Feen und Moosella auf. Unter ihrem Arm klemmte ein dickbauchiges Einmachglas, die sie ihnen stolz entgegen streckte. „Hier sind sie drin: meine gesammelten und sorgsam getrockneten Mondperlen. Nur zu. Schaut nach, ob sie so aussehen, wie die, die ihr „Blubberbeeren“ nennt.“ Für ein höfliches Zögern war Moosella einfach zu aufgeregt. Sie wollte jetzt sofort wissen, ob die ersehnten Beeren gleich wirklich herauskullern würden. Sie nahm der Hexe die Büchse aus der Hand und ließ den Deckel mit einem *KLACK* nach hinten kippen. Noch während sie etwas von dem Inhalt auf ihre Hand schüttete, strichen prüfende Blicke darüber. Es waren Blubberbeeren! Aber nicht nur die …
„Was sind diese goldenen Fädchen und die verdorrten Blätter?“, wollte Merlin von der Hexe wissen. Rumplas Mundwinkel wanderten noch ein Stückchen nach oben. „Du weißt gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe, dass mir jemand genau diese Frage stellt!“ Merles Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe. „Wirklich? Warum?“ „Na weil ich dann endlich von meiner tollsten Teemischung erzählen kann! Also, passt auf!“ Leni spürte wie Rumpla neben ihr vor Begeisterung vibrierte. Das steckte an. Gespannt hing sie an ihren lila Lippen. „Die goldenen Fäden sind die getrocknete Blütenblätter der Fantasiablume und was für euch nach verdorrten Blättern aussieht, ist der eingefangene Sporenstaub eines Puffpaffpilzes.“ Rumpla hob den Finger und machte schwungvoll eine kreisende Bewegung. „Zusammen mit den Mondperlen … ähh, Blubberbeeren, ergibt dies eine magische Mischung, die euch aus den Socken hauen wird!“ Rumplas begeisterter Blick wanderte zwischen den Gesichtern der Freunde, auf denen die Spannung nicht so recht entscheiden wollte, ob sie freudig oder ängstlich sein wollte, hin und her. So fragte das Hexlein lieber noch einmal nach: „Möchtet ihr nun eine Tasse Tee mit mir trinken?“
„Natürlich!“, antwortete Merle etwas zu laut. „Wenn wir schon einmal hier sind…“, sagte Moosella und stupste Merlin an, der hinzufügte: „Wir wollten sowieso einen Nachmittagstee trinken. UND! Wir haben Honigkekse dabei!“ Leni nickte eifrig und holte sogleich das Säckchen mit den Leckereien aus ihrem Rucksack. Rumpla klatschte freudig in die Hände. „Na dann koche ich mal Tee und suche mein schönstes Geschirr für euch heraus!“ Sie machte ein paar Schritte in das dichte Grün hinein. Dann blieb Rumpla stehen, drehte sich erst nach links, ging suchend ein paar Schritte nach rechts und blieb, die Hände in die Hüfte gestemmt stehen. „Ah! Da ist ja mein Küchentisch! Was für ein Glück, dass ich ihn gleich gefunden habe!“, rief sie erleichtert aus. Die Pflanzen verschoben in ihrer Hütte alles, was nicht am Boden festgenagelt war. Und so kam es öfters vor, dass sie erst unter und hinter viele Blätter und Ranken schauen musste, um ihren Zauberkessel, ein noch nicht ausgelesenes Buch oder eben ihren Küchentisch wieder zu finden.
Den Kopf weit in den Nacken gelegt, rief Rumpla zu der Pflanze, deren picknickdeckengroße Blätter sich bis unter das Dach verteilten hinauf: „Würdest du bitte hier unten deine wunderhübschen Blätter etwas anheben, damit meine Gäste am Tisch Platz nehmen können? Ich wäre dir wirklich sehr verbunden.“ Sofort folgte die Pflanze Rumplas Bitte. Sie hatte schließlich höflich gefragt. Zum Vorschein kam ein knorriger Holztisch. „Vielen Dank“, säuselte das Hexlein, verzog aber beim Blick auf die Tischplatte leicht das Gesicht. „Euch muss ich wohl nach dem letzten Umtopfen übersehen haben. Aber das haben wir gleich“, murmelte sie und wischte mit dem weiten Ärmel ihres Kleides ein paar Erdkrümel in einen nahestehenden Pflanzentopf. „Sehr gut. Wie neu!“ Voller Vorfreude drehte Rumpla sich zu den Freunden um und lud sie mit einem Winken dazu ein, sich zu setzen.
Es dauerte nicht lange, bis es in dem Grün raschelte und balancierte ein Tablett, auf dem Teller und Tassen klirrten. Die Hexe stellte es mitten auf dem Tisch ab. Jeder nahm sich eine Tasse und auch das Irrlicht sollte nicht leer ausgehen. Die Hexe hatte für das Lichtlein in quirligem Quellwasser ein paar Sonnenstrahlen eingefangen, die ihm nun aus einem Fingerhut entgegen schienen. „Du hast mich nicht vergessen“, seufzte es etwas verlegen und glomm hell auf, als Rumpla liebevoll über seine Kugel strich. „Wie könnte ich das. Nur weil du etwas getan hast, was nicht so ganz richtig war, heißt das nicht, dass ich dich weniger lieb habe!“, erklärte sie dem Irrlicht mit sanfter Stimme und zog es an ihre Seite, während sie sich auf einem Stuhl fallen ließ. „Vielleicht warten wir aber noch ein bisschen mit dem Trinken. Der Tee braucht noch etwas, um seinen vollen Geschmack entwickeln zu können“, erklärte sie den anderen, bevor sie auch ihre gänseblümchenweiß und sonnenblumengelb gestreifte Tasse zu sich heranzog.
Am Tisch herrschte eine merkwürdige Stille. Keiner wusste so recht, was er in der Teeabkühlzeit sagen oder erzählen könnte. Lenis Blick wanderte durch das Hexenhaus und dabei ein Schmunzeln auf ihre Lippen. Das offensichtlich Merkwürdigste hatten sie ja noch gar nicht angesprochen! Das würde sie nun sofort nachholen. „Sag mal Rumpla, warum hast du eigentlich so viele Pflanzen in deinem Haus?“ Rumpla war von dieser Frage überrascht und verlegen zugleich. Anstatt in Lenis Augen, schaute sie in ihrem dampfenden Tee. „Nun… Ich mag mein Moor und ich mag mein Schlumperhäuschen. Sehr sogar! Aber so gemütlich ich es mir hier auch mit Spinnenwebkissen und einem knisternden Hexenkesselfeuerchen gemacht habe, war ich trotzdem ziemlich einsam. Mein Moor liegt am Rande des Glimmerwaldes. So nahe und doch so weit weg von den Wundern und Wesen darin. Deshalb habe ich beschlossen, mir daraus Freunde ins Haus zu holen. Freunde, um die ich mich gut kümmern würde. Sie belohnen mich dafür, indem sie mir ihre schönsten grünenden und blühenden Seiten zeigen.“ Den Blick immer noch nach unten gerichtet, drehte sie ihre Tasse vorsichtig in den Händen und fügte etwas leiser hinzu: „Und mich vor allen Dingen ist es ihnen ganz egal, wie ich aussehe, ob ich immer das Richtige sage oder mich gut benehme.“ Ihr letztes geflüstertes Wort ging wieder in eine steinschwere Stille über. Rumpla atmete tief ein… und mit einem Keuchen aus, als das polternde Lachen ihrer Gäste die Teetassen auf dem Tisch wackeln ließen.
In einem kläglichen Versuch wieder ernst zu werden, rieb sich Merlin die Tränen aus den Augenwinkeln und presste die bebenden Lippen zusammen. Er musste sich zweimal Räuspern, bevor er die Worte wirklich so klangen, wie er sie meinte. Der Feenjunge schenkte Rumpla seinen aufrichtigsten und wärmsten Blick, während er ihr erklärte: „Niemand macht alles richtig. Und niemand muss alles richtig machen. Die, die hinter deinem Rücken über dich reden, wollen meist nur von ihren eigenen Fehlern und Schwächen ablenken. Du bist in keinster Weise schlechter als irgendjemand sonst. Lass dich durch miese Reden und falsche Urteile nicht einschüchtern.“ Merle stand auf und kniete sich vor Rumplas Stuhl, sodass sie ihr ganz nah auf Augenhöhe war. „Merlin hat Recht! Zeig dich in all deinen Farben und sei stolz darauf!“ „Ja! Dein Rabenschwarz, Matschbraun, Nebelgrau, Pflanzengrün und Blumenbunt! Du bist einzigartig und toll! *KNARRZ* Lenis Stuhl ächzte als sie sich zu Rumpla vorbeugte und sie in eine liebe Umarmung zog. Rumpla schniefte und lachte gleichzeitig vor Erleichterung. An Lenis Ohr, dennoch für alle sehr gut hörbar, flüsterte sie: „Das werde ich.“ „Also ich habe Rumplas Leuchten schon sehr lange gesehen! Das will ich nur mal festhalten!“, platzte da das Irrlicht die mit leichtluftigen Gefühlen gefüllte Stimmungsblase. Merlin stupste das Lichtlein neckisch an, verkündete aber voller Aufrichtigkeit: „Dann bedanken wir uns bei dir noch einmal ausdrücklich dafür, dass du uns zu Rumpla in das Moor geführt hast. Ohne deine List, hätten wir sie nicht als gute Freundin gewonnen.“ Das Irrlicht nickte zufrieden. „Das habe ich natürlich alles vorher schon gewusst. Sehr gerne geschehen!“
Kapitel 8
*KLIRR* *KLIRR* *KLIRR* Die vier Tassen wackelten auf ihren Tellerchen, als wollten sie nicht länger nur einfach so vor sich hin dampfend auf dem Tisch stehen. Der Tee darin färbte sich von einem Butterblumengelb, zu einem Fliederlila, dann zu einem Veilchenblau und schließlich zu einem Ranunkelgrün. Mit einem *PLOPP* stieg eine Blubberblase aus der grün wabernden Flüssigkeit auf. Dann noch eine, noch fünf. Bis der Tee britzelte, als habe man ein Brausebonbon hineingeworfen. Merlin hatte zuerst zum Schutz vor gefährlichen Spritzern ein Auge zugekniffen. „Ähhm, muss das so sein, Rumpla? Hast du vielleicht eine falsche Mischung erwischt? Ich würde wirklich sehr ungern in ein Moorungeheuer verwandelt werden. „… oder vielleicht gleich in einen Matschhaufen!“, befürchtete Moosella und zog ihren Moosmantel noch etwas enger um sich. Merle stemmte die Hände gegen die Tischkante und schob ihren Stuhl einen ein ganzes Stück weg, um sich vor dem merkwürdigen Gebräu in Sicherheit zu bringen. „Also ich werde das bestimmt nicht trinken!“, sagte sie bestimmt. Auch Leni hatte jetzt ihre Hand schnell weggezogen, die sich eben noch neugierig um den Henkel geschlossen hatte.
In all dem Teechaos hob die Hexe Rumpla ihre Tasse mit der Blubberbeerenmischung ruhig an ihre Stupsnase. Mit genüsslich geschlossenen Augen sog sie den Duft von Zuckerwatte und süßen Beeren ein. „Es ist die richtige Mischung. Die Zutaten haben sich genauso zusammengefügt, wie sie es sollten. Der Tee ist perfekt.“ In ihrer Stimme schwang ebenso der Stolz auf ihr Hexenhandwerk als auch auf die wundersamen Gaben der Natur mit. Rumpla öffnete ein Auge und warf den Anderen über dem Rand ihrer Streifentasse daraus einen funkelnden Blick zu. „Nur zu, traut euch! Lasst euch von meinem Tee verzaubern und die Sterne werden vor Neid vor eurem Können erblassen!“, versprach sie mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen und nahm den ersten Schluck.
Lenis Herz machte einen aufgeregten Satz. Sie würde morgen sowas von sauer auf sich sein, wenn sie sich jetzt nicht traute! Bevor Zweifel und Angst sie noch einmal zurückhalten konnten, griff sie nach der Tasse und trank. In ihrem Mund explodierte der süße Geschmack der Blubberbeeren! Ein Kribbeln ließ ihre Zunge tanzen, krabbelte hinab in ihren Bauch und von da aus bis in ihre Finger und Zehen. „Asselbein und Krötenschleim! So einen guten Blubberbeerentee haben ich wirklich noch nie getrunken!“ Moosella sprang neben Leni auf und setzte sich gleich wieder, um noch einen großen Schluck zu nehmen. Merlin und Merle stimmten sich kurz mit einem Blick in die himmelblauen Augen ab, dann nickten sie einmal und tranken ebenfalls – wenn auch erst einmal nur einen kleinen Schluck.
„Und was passiert als nächstes? Ich spüre nichts weiter als ein Kribbeln! Wie machen wir denn nun die Sterne neidisch?“, wollte Moosella aufgeregt wissen, nachdem sie auch den letzten leckeren Tropfen aus ihrer Tasse geschleckt hatte. „Dafür braucht es frische Moorluft! Also: hopp, hopp! Kommt mit mir hinaus, bevor der Zauber wie eine Sternschnuppe erlischt!“ Die Hexe Rumpla war schon auf den Beinen, das Irrlicht schwebte über ihrer Schulter. Leni, Moosella und die Feen beeilten sich, dem Nachtschwarz ihres Kleides durch das dichte Grün zu folgen. „Keine Sorge! Ich kenne den Weg zu meiner Haustür! Zumindest glaube ich das“, rief Rumpla ihnen über die Schulter zu und kicherte: „Gerade ist mir aber noch etwas Besseres eingefallen.“ Sie formte an ihrem Mund die Hände zu einem Trichter. „Rumpelchen!“, rief die Hexe in den Raum hinein. „Ich weiß, ich wecke dich gerade aus deinem wohlverdienten Schläfchen. Aber wärest du bitte so freundlich und würdest uns die Türe öffnen, damit das schummrige Licht aus dem Moor bis zu uns gelangen kann?“
Das Häuschen wankte von rechts nach links und von links nach rechts. Leni klammerte sich an Moosellas Arm, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Über dem aufkommenden Blätterrauschen knackte und ächzte es. Bei einem lauter Knall zuckte Leni zusammen. Als Holz knirschte, verzog auch Rumpla missmutig das Gesicht. Sie stemmte die Arme in die Hüfte und schimpfte laut: „Das mit dem Türöffnen üben wir noch einmal, Rumpelchen! Das war jetzt schon die Dreiundzwanzigste, die zu Bruch gegangen ist!“ Aufgebracht drehte sie sich in die Richtung, in der der Knall immer noch wie eine schwarze Gewitterwolke im Raum hing. Rumpla hob den Fuß, um drauflos zu marschieren, als ihr Blick an einem pfeilspitzen, mondsilbrigen Lichtstrahl auf dem Boden haften blieb. Die Moorhexe setzte den Fuß mitten auf den hell leuchteten Weg und schnalzte zufrieden mit der Zunge. „Immerhin ist mein Plan aufgegangen und wir wissen jetzt genau, wo es hinaus geht.“
Das Hexenhäuschen hatte wohl ein schlechtes Gewissen, denn es war artig in die Knie gegangen. So mussten Rumpla und ihre Gäste nur einen einzigen großen Schritt machen und schon standen sie wieder mit beiden Beinen im Moor. Am Tag war es hier schon düster und etwas unheimlich gewesen. Nun hatte die Nacht ihr schwarzes Band über den Himmel gezogen, das bis auf den runden Mond nur ein paar Sterne verzierten. *KRAH* KRAH* Ein kühler Wind trug das Krächzen eines Raben zu ihnen. Zwischen den Ästen eines dürren Baumes war er nicht mehr als ein dunkler Schatten. „I.. Ich glaube, ich habe schon genug von der Wunderwirkung des Tees gesehen. Können wir bitte wieder hinein gehen?“, fragte Merle bibbernd vor Angst. Die Moorhexe schlang der Fee sogleich einen Arm um die bebenden Schultern. „Ach was! Hat Korax dich etwa erschreckt? Der alte Rabaukenrabe will sich doch nur wichtig machen!“ Rumpla schaute finster in Korax` Richtung. Der plusterte sein Gefieder auf und krächzte beleidigt noch einmal besonders laut auf. Mit hochgezogener Augenbraue Merlin zog Moosella und Leni näher an sich und legte nach: „Das ist ihm wohl gelungen! Was, wenn in der Dunkelheit noch finstere Wesen lauern?“ Rumpla lachte laut auf. „Das Finsterste in diesem Moor bin wohl ich!“ Zum Beweis ließ die Hexe ihre Augen auf die schiefen Nasenrücken schielen, schob den Unterkiefer vor und formte mit einem Gurgeln die Händen wie Klauen. Die Kugel des Irrlichts hüpfte wie ein Gummiball auf Rumplas Schulter auf und ab. So sehr musste es kichern.
„Na gut. Na gut. Wir haben es verstanden: Du bist die unheimliche Moorhexe“, schmunzelte nun auch Moosella und forderte die stolz nickende Rumpla sogleich auf: „Dann mach mal mit deinem Teezauber weiter! Es kitzelt nämlich die ganze Zeit schon so komisch in meinem Hals!“ Moosella hickste. „Gerade so, als würde der Britzeltee neue Blasen herauslassen wollen!“ Rumpla grinste verschmitzt. „Blubberblasen sind es nicht – dafür etwas viel Magischeres! Schaut mir jetzt genau zu und macht es genauso nach!“
*ÄHHEM* Die Hexe räusperte sich. *ÄHHEM* *ÄHHEM* *ÄHHEM* *ÄHHEM* kam es sofort auch von den Anderen. Rumpla legte mit einem breiten Grinsen den Kopf schief. „Das Nachmachen klappt schonmal sehr gut – aber das Räuspern hat natürlich noch nicht zur Vorstellung gehört.“ „Haben wir uns schon gedacht, wollten nur sicher gehen“, sagte Moosella und verschränkte die Arme vor der Brust. Rumpla nickte und zwinkerte ihr zu. Dann schloss sie für die nötige Konzentration nicht nur das eine, sondern auch noch das andere Auge. Die Moorhexe atmete tief ein, spitzte die Lippen und pustete. Da kam nicht etwa nur leere Luft. Nein. Rumpla pustete wild wirbelnden Glitzerstaub in den Schein des silbernen Mondes. Über den Köpfen der staunenden Freunde formte sich aus dem Glitzerstaub eine Fiedel. Leni konnte ihr lustiges Lied ganz deutlich hören! Die übrigen silbernen Funken schlossen sich zu Tanzenden zusammen, die sich zu dieser Melodie schnell im Kreise drehten. In ihrer Mitte machte eine kleine Moorhexe Freudensprünge. Sie trug ein wunderhübsches Kleid und auf ihrem Gesicht ein glückliches Lächeln.
Kapitel 9
*PUFF* Nur zwei Wimpernschläge später fiel der Glitzerstaub zu Boden und ließ die heitere Vorstellung nur noch als eine schöne Erinnerung zurück. Rumpla seufzte schwer. „Die Magie des Mondperlentees weckt große Freude, aber auch große Sehnsucht. Dank ihr kann man seinen größten Wunsch wahr werden lassen. Aber nur kurz und ob er tatsächlich in Erfüllung gehen wird, ist nicht gewiss.“ Eine Träne kullerte über ihre Wange. Leni streckte die Hand aus, um sie aufzufangen, doch Rumpla hatte sie schon schnell mit ihrem weiten Ärmel weggewischt. Die Moorhexe schniefte und lächelte tapfer. „Nun lasst euch aber durch mich nicht den Spaß verderben! Vollendet den Teezauber und seht, was euer größter Wunsch ist. Ich bin schon ganz gespannt!“
Irgendwie war den Freunden jetzt nicht mehr danach, Glitzerstaub in die Luft zu pusten. Rumpla sah immer noch so niedergeschlagen aus… Leni wusste aber, dass sie der Hexe nicht halfen, wenn sie jetzt auch noch die Köpfe hängen ließen. Rumpla brauchte eine schöne Aufheiterung. Und was könnte sich dafür besser eignen, als die Vorstellung von tollen Wünschen – außerdem war sie selber ziemlich neugierig, was der Glitzerstaub ihren Freunden wohl zeigen würde. Leni klatschte in die Hände und durchbrach damit die bedrückende Stille. „Mein Opa sagt immer: ‚Auf los geht’s los!‘ Also los!“, rief sie die Feen und Moosella auf. „Ja! Ja! Los! Los!“, feuerte nun auch das Irrlicht, das vor Aufregung ganz hell leuchtete.
Moosella, Merle, Merlin und Leni fassten sich an den Händen. Sie nickten sich einmal kurz zu und holten tief Luft – genauso wie es Rumpla eben getan hatte. Das kitzelige Blubbergefühl im Hals war schon fast nicht mehr auszuhalten. So entließen sie schnell den Glitzerstaub mit einem kräftigen Pusten in die Nacht.
Die Glitzerfunken stoben auf wie ein Feuerwerk. Sie verbanden sich so schnell zu Formen, dass Leni weit die Augen aufriss, um auch ja alles mitzubekommen. Zuerst waren die Spitzen von Bergen hinter denen Riesen miesepetrig hervorschauten, dann Wellen eines Meeres, aus denen ihnen Meerjungfrauen freundlich zuwinkten. Leni wusste sofort, dass dies ihre Sehnsucht nach Abenteuern war. Dann lösten sich die Funken, nur um einen riesigen Berg aus Honigkeksen aufzustapeln, aus dem ein schmatzender Merlin herausschaute. Merle verdrehte über den Wunsch ihres Bruders die Augen. Dabei hätte sie fast ihren Wunsch verpasst: über die Köpfe der Freunde ritt eine kleine Fee mit wild wehendem Haar auf einem Einhorn hinweg. Moosella formte mit ihren Lippen ein staunendes *OH*, als dahinter ein zweites Einhorn in Sicht kam. Auf dem saß ein Moosmädchen im Prinzessinnenkleid, die im Galopp elegant ihre Krone richtete.
Merlins Kopf schwang zu der Moosella neben ihm herum. „Wirklich? Eine Prinzessin?!“, fragte er sie überrascht. Das Moosmädchen hob stolz das Kinn. „Warum soll das so unglaublich sein? Hm?! Anmutig und liebreizend bin ich ja schon! Mir fehlt bloß noch das passende Kleid!“, fauchte sie ihn an. Merlins Mundwinkel hoben sich. „Das können meine Schwester und ich Euch gerne aus dem Feenschloss besorgen.“ Er ließ sich in eine tiefe Verbeugung fallen und fügte mit einem unterdrückten Kichern hinzu: „Eure moosige Majestät.“ Moosella schnappte nach Luft. Gerade wollte sie dem frechen Feenjungen etwas Pfeffriges erwidern, doch der begeisterte Aufschrei von Rumpla ließ sie die Worte wieder hinunterschlucken. Das Moosmädchen richtete den Blick wieder nach oben. Der Glitzerstaub hatte ein neues Bild entstehen lassen.
Sie tanzten im silbernen Glitzerrausch. Alle gemeinsam: Rumpla, Merlin, Merle, Moosella, Leni und sogar das Irrlicht hüpfte zu dem Lied der aufspielenden Fiedel auf und ab. Der glänzende Moment spiegelte sich noch ein letztes Mal in den staunenden Augen der Freunde wider, bevor auch er mit einem *PUFF* verging. „Das war sooo schön! Besser hätte ich es mir nicht ausmalen können“, flüsterte Rumpla noch ganz ergriffen. Jemand nahm ihre Hände in die seinen. Die Moorhexe blickte auf, direkt in das liebe Gesicht von Leni. „Nun kennst du unsere Wünsche – vor allen Dingen unseren größten gemeinsamen Wunsch. Und weißt du was das Beste daran ist?“ Unsicher, ob es das war, was Leni hören wollte, sagte Rumpla mit zittriger Stimme: „Dass noch jede Menge Blubberbeerentee übrig ist und wir den Zauber gleich noch einmal machen können?“ „Nein…“, wiesen da gleich die Feen und Moosella die Moorhexe zurecht. Rumpla senkte den Blick, damit sie die Enttäuschung darin nicht sehen konnten.
Leni schob das Kinn der Moorhexe sanft nach oben, sodass sie ihr nun doch direkt in die haselnussbraunen Augen schauen musste. „Das Beste daran ist…“, wiederholte Leni mit einem warmen Lächeln, „…dass wir gar keinen Zauber brauchen, um deinen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Wir, deine Freunde, sind zusammen in deinem Moor.“ „Und können jetzt und hier so wild und frei tanzen wie wir wollen!“, verkündete Merle mit einem Funkeln in den Augen fröhlich, während sie Rumpla in eine schwungvolle Drehung zog. „Die Musik müsste höchstens herbeigezaubert werden, denn ich werde auf keinen Fall singen“, merkte Moosella murmelnd an.
Das Herz der Moorhexe klopfte vor Freude, Aufregung und Rührung zugleich ganz wild in ihrer Brust. In ihrem Kopf und ihrer Brust schwirrten so viele Worte und Gefühle durcheinander, dass kein zusammenhängender Satz aus ihrem breit lächelnden Mund kommen wollte. Das musste es auch nicht, denn ihre neuen Freunde konnten sie alle an ihrem glücklichen Gesicht ablesen. Doch plötzlich verzog es sich. Auf Rumplas Stirn erschienen kleine Falten, ihre steingrauen Augen verdunkelten sich, die Hände strichen aufgeregt über den schwarzen Stoff ihres Kleides. „Was sticht mich denn da nur so entsetzlich?“, schimpfte sie vor sich hin. Ihre Finger glitten in die weite Tasche ihres Rockes und tasteten ärgerlich nach dem Übeltäter. „Vielleicht hat sich bei dir ja ein Platschling versteckt. Habe gehört, dass sie am ganzen Eidechsenkörper kantige Schuppen haben … und fiese Reißzähnchen“, merkte Merlin an, schob seine Hände in die eigenen Hosentaschen, zog sie aber aus Angst, sich auch einen Platschling eingefangen zu haben, schnell wieder heraus.
„Da bist du also! Ich dachte wirklich dieses Mal hätte ich dich wirklich verloren! Aber du, mein treuer Fidibus, findest immer wieder zu mir zurück!“ Als die Hexe ihre Hand fest um etwas in ihrer Tasche schloss, kehrte das Strahlen auf ihr Gesicht zurück. „Hat sie dem Platschling einen Namen gegeben? Ist das etwa ihr Schoßtierchen?“, wisperte Moosella Merle zu, bevor sie ihre Freundin doch lieber vorsichtshalber mit sich ein Stück nach hinten zog, denn Platschlinge konnten sehr gut springen. Rumpla hatte das Etwas nun aus ihrer Tasche gezogen und hielt es voller Stolz hoch in das Mondlicht: die milchige Kristall am Ende eines aus moorschwarzem Wurzelwerk gewundenen Stabes leuchtete sofort in einem strahlenden Lila auf. Ohne den Blick davon abwenden zu können, wandte sich Merle an Moosella und verkündete voller Staunen: „Wenn das ein Schoßtier sein soll, will ich auch so eins haben!“
„Mein Fidibus ist alles andere als ein liebes Schoßtierchen. Er hat seinen ganz eigenen Willen“, kicherte Rumpla. Liebevoll strich sie über das raue Holz des Zauberstabes und fügte hinzu: „Aber er steht mir immer treu zur Seite.“ „Na dann zeig mal, was ihr beiden so könnt! Ich hätte zu der Fiedel gerne noch ein Trömmelchen und eine flotte Flöte! Der Boden muss schon von einem kräftigen Rhythmus beben, damit meine Füße darauf tanzen können!“, rief da Merlin übermütig. Rumpla lachte rumpelnd auf. „Das kannst du haben!“ Wie ein Dirigent mit seinem Taktstock, klopfte die Moorhexe auf ein unsichtbares Notenblatt und ließ ihn dann mit schwungvollen Bewegungen durch die Luft kreisen.
Kaum waren die ersten Töne einer lustigen Melodie erklungen, hatten sich die Freunde schon bei den Händen gefasst und zeigten unter dem Schein des Mondes ihre besten und lustigsten Tanzschritte.
Kapitel 10
Leni ließ sich mit den anderen auf den Boden plumpsen. Noch von dem Hüpfen und Schwingen außer Atem, blickte sie in den nachtblauen Himmel. Es war schon spät. Ihr Herz wurde schwer. „Ich muss zurück in meine Welt. Die Zeit vergeht dort langsamer, aber sie wird nicht anhalten“, sagte sie leise. „Meine Mama macht sich bestimmt auch schon langsam Sorgen“, kam es bedrückt von der neben ihr liegenden Moosella. Die Feengeschwister seufzten. Auch sie wurden im Schloss schon lange zurückerwartet. Rumpla schluckte schwer. Doch der dicke Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Mühevoll brachte sie die Frage hervor, vor der sie sich schon den ganzen Abend fürchtete: „Werdet ihr mich vergessen, wenn ihr wieder zu Hause bei euren Liebsten seid?“ Einen Moment war es ganz still. „Natürlich werden wir das nicht!“, riefen Leni, Merlin, Merle und Moosella gleichzeitig. Die Freunde sprangen auf und kitzelten die verdutzt dreinschauende Rumpla, bis sie laut mitlachen musste.
Die kleine Hexe zwinkerte eine die Tränen aus ihren Augen. Es waren keine Tränen der Trauer über etwas, dass ihrem Herzen verloren ging, sondern der Freude über die Freunde, die sie neu gewonnen hatte. Trotzdem konnte sie einen Seufzer nicht zurückhalten. „Dann will ich mal so nett sein und euch ein Portal öffnen, das euch direkt zu eurem Zuhause führen wird.“ Rumpla bedachte Leni, Moosella und die Feen mit dem strengsten Hexenblick, den sie auf Lager hatte. „Aber natürlich nur unter der Bedingung, dass ihr ganz bald wieder kommt.“ „Versprochen!“, ergriff Leni sogleich das Wort und die anderen nickten brav. „Und mich wirst du sowieso nicht so leicht los! Mir gefällt es nämlich ziemlich gut in deinem Moor!“, piepste das Irrlicht und schmiegte sich in seiner Kugel an das rabenschwarze Haar der Hexe. Rumpla legte ihren Kopf noch etwas mehr zur Seite und wisperte dem Irrlicht zu: „Nun habe ICH dich wohl ins Moor gelockt, hm? Ich freue mich sehr, dass du bleibst!“
„Aber ihr, meine Lieben, werden erwartet!“ Rumpla ging auf eine große Moorpfütze zu. Sie ließ ihren Zauberstab noch einmal im silbrigen Licht des Mondes baden und tauchte dann den leuchtenden Stein in das zittrige Nass. Augenblicklich verwandelte sich die Oberfläche in einen Spiegel. „Merlin und Merle, seid ihr die mutigen Ersten?“ Die Feengeschwister landeten mit ein paar Flügelschläge links und rechts neben der Hexe. „Schaut hinein und beschreibt, was ihr seht!“, forderte Rumpla sie auf. „Da sind die Türme unseres Schlosses!“, rief Merle überrascht aus. „In meinem Zimmer brennt Licht! Wehe mein lieber Freund Lucius hat sich wieder hinein geschlichen, um eine Stinkmorchel unter meinem Bett zu verstecken! Schnell Merle! Dieses Mal erwische ich ihn!“ Merlin fasst seine Schwester an der Hand. Bevor er mit ihr den Sprung in das Pfützenportal wagte, drehten sie sich noch einmal um. „Wir treffen uns auf der Blumenwiese wieder!“, rief Merle. „Und vielleicht habe ich dann für euch auch eine Blume, die nicht nach Stinkefüßen riecht!“, schob Merlin mit einem breiten Grinsen hinterher. Merle wollte ihrem Bruder gerade einen Klapps geben, doch er sprang schon ab und zog sie mit sich.
Moosella fuhr sich durch das wilde Moospflänzchenhaar. „Und wo treffen wir uns wieder? Schließlich wirst du ja nicht jede Woche einen Ausflug mit den garstigen Jungen deiner Schulbande machen“, wollte sie von Leni wissen, die genauso wehmütig dreinschaute, wie sie sich fühlte. Lenis Mundwinkel hoben sich leicht, als sie anmerkte: „Es ist weniger eine Bande. Wir Menschen sagen dazu Klasse. Aber garstig sind einige der Jungs trotzdem.“ Dann blickte sie Moosella fest in die Augen. „Aber neben der Schulklasse gibt ja noch meine Eltern, Großeltern und Eltern und Großeltern von meinen Freunden, mit denen man mal einen Ausflug zum Baumkronenpfad machen könnte. Das klappt schon! Mach dir keine Sorgen!“ Moosellas Unterlippe bebte. Mit einem kräftigen Ruck zog sie Leni in eine große Umarmung. „Ich werde jeden Tag im Wald nach dir Ausschau halten“, versprach sie, drückte Leni noch einmal ganz fest, um dann mit Anlauf in die Pfütze zu springen. Rumpla wischte sich mit einem Lächeln die Spritzer aus dem Gesicht und sah mit einem zufriedenen Lächeln zu, wie Moosella mit einem Purzelbaum inmitten des Dorfes des Moosvölkchens landete.
„Nun bin ich nur noch übrig.“ Leni machte die letzten fünf Schritte auf Rumpla zu. Ihre Augen hefteten sich auf ihre Lehrerin, Frau Rosenblatt, deren suchender Blick aus dem Spiegel heraus über Lenis Gesicht streifte, ohne sie wirklich zu sehen. Ein leises Rascheln lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Moorhexe. Rumpla hielt ihr eine mit wunderschönen Blumen bemalte Dose hin. „Die ist für dich. Darin ist noch etwas noch etwas von dem Blubberbeerentee. Wenn du dich doch einmal einsam fühlen solltest oder uns und die Anderswelt vermisst, mach dir einfach ein Tässchen und lass deine Wünsche wahr werden.“ Leni schniefte ein „Danke“ und ließ sich auch von Rumpla noch einmal in eine herzliche Umarmung ziehen.
„Leni! Leni?! Wo bist du?! Die ganze Klasse ist schon beisammen! Würdest du bitte herauskommen, wir verpassen sonst noch den Bus!“ Die Stimme von Frau Rosenblatt ließ die beiden Freundinnen sich wieder voneinander lösen. „Ich muss dann wohl mal. Ich komme bestimmt ganz bald wieder! Ah!“ Leni war noch etwas ganz Wichtiges eingefallen. „Könntest du ein paar Extrastreichler geben, solange ich nicht da bin?“, bat sie Rumpla. Die Moorhexe nickte gewichtig. „Das mache ich sehr gerne.“ „Gut.“ Nun war Leni bereit aus ihrem ersten Abenteuer, das aber bestimmt nicht das Letzt sein sollte, wieder in ihre Welt zurückzukehren. Sie hielt sich die Nase zu und sprang…
Als sie zwischen den Büschen am Rande der Lichtung zum Baumkronenpfad landete sah Leni gerade noch, wie aus schon kleiner werdenden Pfütze neben ihr der schuppige Kopf eines Platschlings schaute, der ärgerlich rief: „Bleibst du jetzt draußen oder nicht? Es zieht!“